Barenboim: "Ich bitte auf meinen Knien..."

Coronakrise Gedenkkonzert 75 Jahre Kriegsende

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Der kurzfristig vom Fernsehsender 3sat gestern Abend als Direktübertragung ins Programm genommene Auftritt der Staatskapelle Berlin unter Leitung ihres Chefdirigenten Daniel Barenboim in der leeren Staatsoper Unter den Linden war als "Gedenkkonzert 75 Jahre Kriegsende" apostrophiert, und Barenboim ging zu Beginn dann auch mit zwei, drei Sätzen auf den Anlass ein. Gleichsam und fast im selben Atemzug nutzte er die Gelegenheit des auch per Internet weltweit hinaus multiplizierten Live-Streams, um - in Anbetracht jener "berühmten Krise", wie er die anhaltenden Begleitumstände der Coronapandemie nannte - an das Verantwortungsbewusstsein der Regierenden zu appellieren, die nun bitte auch, nachdem sie die gesundheitlichen und die wirtschaftlichen Konsequenzen in den Fokus ihres Handelns stellten, sich als drittes der Kultur annehmen sollten! Er erinnerte daran, dass seit dem 13. März - auf den Tag genau seit 8 Wochen (!) - die Staatsoper geschlossen ist, und er bat alle Verantwortlichen auf seinen Knien (wie er sagte), sich mit großer Fantasie zu überlegen, wie der Raum wieder nicht nur mit Musikerinnen und Musikern, sondern und vor allem mit ihrem Publikum gefüllt werden kann, wortwörtlich: "wie wir anfangen können zu spielen".

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Dann gab es Mozarts Eine kleine Nachtmusik und Wagners Siegfried-Idyll zu hören und zu sehen - die kammermusikalische Werkauswahl wurde entsprechend der bestehenden Hygiene- und Abstandsregelungen lt. Infektionsgesetz getroffen; also es durften nicht mehr als 15 Leute auf dem Podium sein. Ganz unabhängig davon fragte man sich hinter vorgehalt'ner Hand, ob denn der angesetzte Wagner-Teil nicht idealer hätte durch "was anderes" ersetzt sein können; immerhin war Wagner Hitlers Lieblingskomponist, und seine Werke wurden auch zur generellen Durchhalte-Ertüchtigung der deutschen Wehrmachtsangehörigen, von wegen Endsieg oder so, bis zum vernichtenden Totelzusammenbruch am 8. 5. 1945 fortgespielt...

Auch:

Barenboim ließ sich für seine Donnerworte reichlich Zeit; es war und ist demnach verwunderlich, dass er - kraft seines Postens, seiner Weltberühmtheit und kosmopolitischen Autorität - nicht längst als ernstnehmbarer Sprecher "seiner Leute" und somit auch vieler, vieler anderer Betroffener öffentlich wirksam, und vor allem hörbar, wurde, ja: Wer, wenn nicht er?!

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Das Deprimierende dieser in Mode gekommenen Livestream-Konzerte ist ihre optische Wahrnehmung. Immer spielt es sich in leeren Sälen oder Räumen ab, und immer fehlen die Menschen, für die Musik eigentlich gemacht und gespielt sein soll.

Diesmal dachte ich an eine der immer wiederkehrenden Schlüsselszenen aller jemals gedrehten Titanic-Filme - da musiziert am Schluss ein Streichquartett, während das Schiff nach unten sinkt und sinkt und sinkt, und ringsum sind bald keine Leute mehr zu sehen und zu spüren; und die Musiker des Streichquartetts verlassen, kurz vorm Kapitän, als Vorletzte das sinkende Schiff...

Heißt hoffen - hoffen? hoffen!

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-ERXTRA am 09.05.2020.]

GEDENKKONZERT 75 JAHRE KRIEGSENDE (Staatsoper Unter den Linden, 08.05.2020)
Wolfgang Amadeus Mozart: Eine kleine Nachtmusik KV 525
Richard Wagner: Siegfried-Idyll WWV 103
Staatskapelle Berlin
Dirigent: Daniel Barenboim
Live-Stream vom 8. Mai 2020

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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