CENDRILLON an der Komischen Oper Berlin

Premierenkritik Sensationelle Massenet-Ausgrabung

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Die Schauspielerin Evelyn Gundlach [deren Name unerklärlicher Weise nicht auf dem Besetzungszettel stand] eröffnete das Stück: Sie tritt als greise Frau maskiert und kostümiert - ein paar Minuten ehe die Musik beginnt - beinahe unmerklich links an den Bühnenrand, wo sich ein abgestelltes und verstimmtes Klavier befindet. Danach zieht sie zwei (durchtanzte?) Ballettschuhe aus ihrem Mäntelchen hervor, die sie mit Zwirn und Nadel notdürftiger Weise repariert. Sie schaut sich um, der Raum, wo sie hineingeraten ist, erinnert sie an was - es scheint ein Probesaal (Bühne: Paolo Fantin) zu sein, eine nach hinten schräg verlaufende Wand besteht aus einem sie fast vollständig einnehmenden Spiegel mit darunter angebrachter Haltestange... War sie früher selbst mal Tänzerin? oder ist sie auf "Zeitreise" zu ihrer Tochter?? Jedenfalls: Man wird sie im Verlauf der folgenden über drei Stunden hin und wieder dort und anderswo erblicken - - spätestens, als sie aus ihrer Handtasche 'ne Handvoll Glitzerstaub entnimmt, den sie durch Pusten auf ihr Töchterchen (ja, ihre Zweierkonstellation kann gar nicht anders als Mutter & Tochter dechiffrierbar sein) zum Rieseln bringt, spürt man bereits physische Überwucherung mit Gänsehaut und kann sich seiner Tränen kaum erwehren!

"Der Schuh ist ihr Verhängnis: Das Mädchen Lucette wollte hoch hinaus, nicht träumend, sondern tanzend – nach einem tragischen Unfall auf der Bühne ist sie nun ans Krankenbett gefesselt. Wie Cendrillon, das Aschenputtel, kämpft sie gegen schmerzvolle Einsamkeit, Selbstzweifel und Angst. Am Ende siegen über Neid, Hass und Eifersucht nicht die Zauberkäfte der Fee, sondern Solidarität und die Wirklichkeit der Liebe", fasst die KOB es auf der hausinternen Website so zusammen.

Nadja Mchantaf, die die Titelrolle herzzerreißend singt und spielt, ist die erste sensationelle Neuentdeckung dieses anrührenden Abends!

Die zweite Sensation ist sicherlich der impulsiven Ausgrabung und überfälligen Entdeckung der (durch den Regie-Star Damiano Michieletto [s. auch The Rakes Progress in Leipzig] sowohl den Kitsch bedienenden als auch den Kitsch relativierenden) 1899er Massenet-Oper Cendrillon aufs Vorzüglichste geschuldet!!

Sabine Franz choreografierte "nicht nur" die wie'n Traum-Double der HauptprotagonistInnen Lucette & Prince Charmant (= in dieser Hosenrolle hörten/sah'n wir Karolina Gumos in schier octavianischer Vollendung) klassisch Pas de deux tanzenden Veselina Handzhieva & Miguel Angel Collado - sie besorgte es auch dementsprechend dem stark travestiegeschulten und in seiner Spiel-, Gesangs- und Tanzwut kaum zu bändigenden Chor der Komischen Oper Berlin. Um jenen ja im Allgemeinbewusstsein so mit Tütü-Vorurteilen und Klischees geradezu durchwucherten Kosmos der Ballerinen oder Ballerininnen zu brechen, meinten Regisseur und Choreografin es - statt mit 'ner protestierenden Distanz - mit einer Eins-zu-Eins-Betrachtung à la Tütü und Klischee hoch zehn quasi auf die Spitze treiben zu müssen; das gelang aufgrund eines sich frei von Peinlichkeit und Argverwunderung verselbständigenden Humors des delikatesten und feinsten Sonder-Ripps!!!

Der Gegenwartsbezug wurde erfüllend installiert: Hausmeistertyp (Carsten Sabrowski) mit de facto einbeiniger Tochter konterkariert eine Sozialscheinwelt der zweiten Ehefrau und Stiefmutter (von der in jeder Hinsicht dominierenden und mit z.T. hirschröhrendem Tief-Alt auftrumpfenden Agnes Zwierko zum Besten gegeben) inkl. ihrer beiden nichtsnutzigen Töchter (Mirka Wagner und Zoe Kissa). Das große Lebenslügenziel jener Betroffenen besteht darin, aus einem Tanz-Casting "siegreich" hervorgepickt zu werden, um es Allen anschließend zu demonstrieren, wer man eigentlich "in Wahrheit" ist - - man kann sich solche Art gehirnwaschende Casting-Megascheiße, nur so zum Vergleich, sattsam und weltweit auf privaten Fernsehsendern zumuten, falls man das wirklich will...

Von den geheutigtsten Symbolen dieser so genialen und auch philosophisch-mehrschichtigen Inszenierung sticht ganz derb das hochmoderne Krankenbett hervor, in dem Lucette ihr leidliches Behindertendasein zu fristen hat - - ihr "Schicksal" wird dann folgenreich und folgerichtig (Stichwort: Kitsch) durch Einzel- oder Kollektivauftritte ihrer von uns deklarierten wahren Mutter und/oder der sie begleitenden Fee-Schar (allen voran die sich in schier artistisch ausufernden Koloraturen beweisende Mari Eriksmoen!) abgemildert. Unvergesslich beispielsweise, wie ihr Wachtraum-Ballkleidchen aus einem irgendwoher stammenden endlosen Reservoir an blauem Tüll auf offner Bühne hergeschneidert wurde; die Kostüme tat im Übrigen Klaus Bruns entwerfen.

Und es gab und gibt noch unzählige bildliche sowie regieliche Details, die hochzujubeln zur Debatte hätten stehen können.

Ja und musikalisch?

Henrik Nánási hat mit Cendrillon - bevor er nun die KOB verlässt - so was wie einen Schwanen(ab)gesang vollbracht. Es ist das Beste seiner kurzen GMD-Ära, was/wie er dirigierte! Massenet klingt schön und bettbreit und vollschnulzig. Dass es letzten Endes Ideal-Maß (also nicht zu schön und nicht zu bettbreit und auch nicht zu vollschnulzig) besaß, ist ihm - und ohne jede Frage dem ausführenden Orchester der Komischen Oper Berlin - zu danken.

Musste unentwegt und gern (aus tiefster Überzeugung) heulen.

Oper als ein unsagbares Wunder - bitte nicht verpassen!!!!!

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 13.06.2016.]

CENDRILLON (Komische Oper Berlin, 12.06.2016)
Musikalische Leitung: Henrik Nánási
Inszenierung: Damiano Michieletto
Choreographie: Sabine Franz
Bühnenbild: Paolo Fantin
Kostüme: Klaus Bruns
Dramaturgie: Simon Berger
Chöre: Andrew Crooks
Licht: Alessandro Carletti
Besetzung:
Lucette, genannt Cendrillon (Aschenputtel) ... Nadja Mchantaf
Madame de la Haltière ... Agnes Zwierko
Le Prince Charmant ... Karolina Gumos
La Fée ... Mari Eriksmoen
Noémie ... Mirka Wagner
Dorothée ... Zoe Kissa
Pandolfe ... Werner van Mechelen
Le Roi ... Carsten Sabrowski
Le Doyen da la Faculté ... Christoph Späth
Le Surintendant des plaisiers ... Nikola Ivanov
Le Premier Ministre ... Philipp Meierhöfer
Six Esprits ... Anja Kirov-Vogler, Sabine Hill, Katrin Le Provost, Mechthild Sauer, Josefine Eberlein und Katrin Hacker
Veselina Handzhieva & Miguel Angel Collado (Tanz)
Chorsolisten und Orchester der Komischen Oper Berlin
Premiere war am 12. Juni 2016
Weitere Termine: 16., 19., 26., 29. 6. / 2., 10. 7. 2016

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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