EINES LANGEN TAGES REISE IN DIE NACHT

Premierenkritik Luk Perceval debütierte mit Eugene O'Neill am Schauspiel Köln

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Es gibt sie also noch: ECHTE Familiendramen! Eines langen Tages Reise in die Nacht von Eugene O'Neill (1888-1953), zum Beispiel.

Und bisweilen meinen die Theater fast schon zwanghaft (und wer zwingt sie eigentlich dazu?) Romane oder Filme dramatisieren also ver-theatern zu müssen. Im Umkehrschluss bedeutete das, dass "es" ihnen nicht mehr reichte, auf ein nach wie vor unausschöpfbares Repertoire an alten und selbstredend auch an neuen Stücken zurückgreifen zu wollen; sie meinen also, dass es möglicherweise für sie viel, viel besser oder kassenschlagiger (?) sein könnte, "es" zusätzlich auch mit Prosa- oder Celluloidvorlagen zu probieren, um die Sitzreihen in ihren altehrwürdigen Gemäuern mit Theaterkonsumierenden zu füllen. Sodurch bleibt ein Großteil ECHTER Stücke, die ausschließlich fürs Theater geschrieben worden waren und noch immer geschrieben werden, ungespielt; der irrwitzge Trend hat inflationäre Ausmaße erreicht; originäre Stückautoren wurden/werden überflüssig und gehen allmählich vor die Hunde!! Die Theater stellten sich mit diesem anbiedernden Tun höchstselbst infrage, und womöglich sind sie sich sogar ihres selbstabschaffenden Notgebarens voll bewusst, "es" ist ihnen (verkürzt gesprochen:) scheißegal, wohin das Alles zielt und führt.

Doch, wie gesagt, es gibt sie noch, diese untotkriegbaren ECHTEN Vater-Mutter-Kind-Geschichten - falls man sie mit Empathie und gut gemeintem Willen in den Stückarchiven sucht und also findet!!

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"Auf den ersten Blick ist das mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Drama über den Verfall einer Familie ein Abgesang auf den amerikanischen Traum. Am Ende eines Tages, wenn die Nacht längst angebrochen ist, Alkohol und Morphium die Gemüter ergriffen haben, der Rausch einem quälenden Kater weicht, sitzen vier versehrte Menschen traurig versunken im Salon: Der Vater ein ehemaliger Schauspieler, nun Grundstücksspekulant, die Mutter morphiumsüchtig, der ältere Sohn ein gescheiterter Schauspieler, der jüngere schwindsüchtig. Eine bessere Welt, ein erfülltes Leben scheint aussichtslos und kann nur im Rausch herbeifantasiert werden. Doch das Leben selbst straft diesen Eindruck Lügen." (Quelle: schauspiel.koeln)

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Meine zuschauenden und -hörenden Erfahrungen mit dem Dramatiker O'Neill liegen fast zwei Jahre zurück - Frank Castorf knöpfte sich Anfang 2018 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg den Haarigen Affen vor, reicherte ihn mit Auszügen aus Kaiser Jones und Der große Gott Brown an, und heraus kam ein apparter Mix aus gleich mal drei O'Neill-Stücken plus Rimbaud & Verlaine.

Bei Regisseur Luk Perceval, der gestern sein grandios zu nennendes Debüt am Schauspiel Köln hatte, geriet die Eines langen Tages Reise in die Nacht-Vorlage (deutsche Textfassung von Michael Walter) sozusagen unverfälscht. Er inszenierte wortgetreu vom Blatt einschl. der Regieanweisungen, die von Maria Chulga (die auch Cathleen spielte) teilnahmslos und extramüde mitgesprochen warn, und klebte dennoch nicht unlösbar an ihm fest. Der Bühnenbildner Philip Bußmann ließ - gemäß der breitwandig vorhandenen Gegebenheit vom Depot 1 - fünf weißgetünchte zellartige Zimmer reihenmäßig aneinanderbau'n; das Publikum hatte dann diesen permanenten Blick in sie hinein, von außerhalb betrachtet, denn noch vor dem stilisierten "Reihenhaus" befand sich so was wie ein Sperr-Graben, in dem es vor/während der Pause unaufhörlich reinregnete und er sich daher (kurz vor dem Stückschluss) als Ophelias Selbstabschaffungsnass manifestierte.

Apropos Ophelia - der O'Neill-Stücktext schließt mit der sog. Wahnsinnsszene aus dem Shakespeare-Hamlet, die vom älteren und auch etwas gesünderen der beiden Sohn-Versager (= Jamie, der mit Seán McDonagh ideal besetzt wurde) quasi kopfüber und daher nicht minder wahnsinnsszenenhaft herabgebrüllt war, derart suggestiv, dass es mir fast den Atem raubte und ich sodurch abgelenkt nicht gleich den Parallel- und Abschiedsauftritt Astrid Meyerfeldts (= die Mary Tyrone spielte) mitbekam. Die drogensüchtige und von den Drogen abhängig gebliebene Gattin & Mutter ging also ins Wasser, weil sie sich aus dem unglücklichen Familiensumpf, in dem sie festgesteckt war, so und so hätte nie mehr befreien können oder wollen...

Überhaupt gestaltete sich der über drei Stunden währende Theaterabend regelrecht zu einem Hohefest der hohen Schauspielkunst - markant und überzeugend angeführt von André Jung (als geizigem Familienoberhaupt James Tyrone); ebenso beeindruckte Nikolay Sidorenko (als krebskrank geword'nes Endmund-Nesthäkchen); dass dann die beiden Vater-Sohn-Geschichten während ihres großen Kartenspielen-Dialogs sich endlos in die Länge zogen, lag/liegt mehr am Stück und weniger an der Regie - die hätte dieses ellenlange Hin- und Hergequatsche freilich etwas kürzen können.

Großartig im Ganzen.

Bitte mehr davon.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 16.11.2019.]

EINES LANGEN TAGES REISE IN DIE NACHT (Depot 1, 15.11.2019)
Regie: Luk Perceval
Bühne: Philip Bußmann
Kostüme: Katharina Beth
Licht-Design: Mark van Denesse
Dramaturgie: Lea Goebel und Beate Heine
Besetzung:
James Tyrone ... André Jung
Mary Tyrone ... Astrid Meyerfeldt
Jamie Tyrone ... Seán McDonagh
Edmund Tyrone ... Nikolay Sidorenko
Cathleen ... Maria Shulga
Premiere am Schauspiel Köln: 15. November 2019
Weitere Termine: 12., 14., 15., 29.12.2019

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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