FIDELIO in der Justizvollzugsanstalt Tegel

Gefängnistheater Jede Menge Texte und viel Musik von Beethoven

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Beethovens Fidelio ist eine Gefangenen-Oper. Passte also ideal zu dem Profil vom GEFÄNGNISTHEATER aufBruch, einem seit über 22 Jahren existierenden freien und unabhängigen Berliner Theaterprojekt mit dem Ziel "durch das Mittel der Kunst den von der Öffentlichkeit ausgeschlossenen Ort Gefängnis derselben zugänglich zu machen".

Das Libretto der 1805 in Wien uraufgeführten Nummernoper mit gesprochenen Dialogen stammte gleich einmal von drei (!) Autoren (Joseph Sonnleithner, Stephan von Breuning und Georg Friedrich Treitschke) und ist - ganz im Gegensatz zu Beethovens Musik - gewisslich kein Geniestreich; ja und läse man, vor allem heute, dieses Textbuch pur, würde man zwanghaft und unweigerlich die volkstümliche These unterstreichen wollen: Viele Köche verderben den Brei. Aber bei Opern zählte/zählt nun mal in erster Linie die Musik, der "Rest" war/ist zumeist von nebensächlicher Natur.

Also: Text ist halt Text - Musik ist halt Musik.

Ja und wer machte/macht (in einem Gefängnis, wohl gemerkt) nun was? wer spricht - wer musiziert??

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Gut, dass es jetzt in dem Zusammenhang einen doch ziemlich hochpotenten Partner "in Gestalt" des sog. Education-Programms der Berliner Philharmoniker gegeben hatte, und so tat man diesbezüglich sechs junge MusikerInnen der elitären Karajan-Akademie sowie der Hochschule für Musik "Hanns Eisler" für den musikalischen Teil des Fidelio-Unternehmens abordnen. Elf Wochen probten sie mit dem aus 17 Männern bestehenden Gefangenentheater der Justizvollzugsanstalt Tegel...


"Im Geiste der Französischen Revolution komponiert, verhandelt Beethovens Oper die Überwindung von Willkür und Tyrannei durch eine todesmutige Frau: Leonore. Ihr gelingt es, als Mann verkleidet und unter dem Decknamen Fidelio, ihren eingekerkerten Mann Florestan aus den Fängen des Gewaltherrschers Don Pizarro zu befreien. Damit stellt das Werk eine Grundfrage menschlichen Freiheitsstrebens: Was muss man tun, um das schier Unmögliche zu erreichen? [...] Den Stoff in einem Gefängnis aufzuführen, gibt dem Spiel um Freiheit und Treue, um Recht und Würde eine bezwingende Unmittelbarkeit. Das Gefangenensemble spielt eine sprachlich modernisierte Libretto-Fassung - kombiniert mit ausgewählten Arien der Oper und Kompositionen Beethovens, die auf besondere Weise die rebellische Weite und die visionäre Kraft seines Werkes offenbaren." (Quelle: gefaengnistheater.de)

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aufBruch-Regisseur Peter Atanassow - unverrücklich in der Tradition seiner berühmten Regisseurskollegen Einar Schleef oder Frank Castorf stehend - wollte sich womöglich nicht mit Obigem [s. Fidelio-Plot] so ohne Weiteres zufrieden geben. Und so reicherte er die von seinen ausführenden Darstellern verkürzt zitierten Kostproben des leidlichen Librettos mit viel (sehr viel!) andern Texten anderer Autoren an. Am auffälligsten gab er seiner "Zugriffswut" zwischen dem I. und dem II. Akt der Oper kreativen Zunder, als er uns (dem aufgeschlossen-neugierigen Publikum) ein zirka halbstündiges Intermezzo nach der Rudolf-Leonhard-Tragödie Geiseln aus den Jahren 1945/46, die die willkürliche Hinrichtung von Strafgefangenen zum Ende der NS-Pseudojustiz behandelt, denkanstößig vorschlug. Und tatsächlich sollte all das überraschend so Gehörte nicht nur unseren Verstand, sondern viel mehr noch Emotionen in uns stimulieren - trotz des zusätzlich und vielfach schon vom guten alten Castorf herbemühten "Engels der Verzweiflung" aus dem Auftrag Heiner Müllers, was dann wiederum zur allumschließenden Bekräftigung der vielen (allzu vielen) Text-Zitate diente.

Und so zog sich die Performance, die wir im Parkour-Slalom von einem Platz zum anderen verfolgen durften, lang und immer länger hin.

Auch musikalisch wurde nicht an Stücken oder Stückzitaten (außer aus Fidelio) gegeizt. Verschiedene Klavier-Soli, gespielt vom Dirigenten Vsevolod Silkin, wechselten sich ab mit Streichquartett-Auszügen oder kammmermusikalischen Bearbeitungen weiterer Werke von Beethoven.

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Sensationell und über allem, was Erfreuliche(re)s über dieses Großprojekt noch zu berichten wäre, ragend: die für alle Unbeteiligten als wie Beteiligten spürbare Spielfreude und -lust der 17 Männer vom Gefangenenensemble der JVA Tegel, die in summa "nicht nur" ihre Rollentexte sprachen, sondern auch gesanglich, ob im Chor oder mittels versprengter Soli, zeigten, was sie konnten oder während ihrer elfwöchigen Probe alles so gelernt hatten!!!

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 20.02.2020.]

FIDELIO (JVA Tegel, 19.02.2020)
nach Ludwig van Beethoven

Musikalische Leitung und Klavier: Vsevolod Silkin
Regie: Peter Atanassow
Bühne: Holger Syrbe
Kostüme: Melanie Kanior
Dramaturgie: Hans-Dieter Schütt
Video: Pascal Rehnolt
Es spielte das Gefangenenensemble der JVA Tegel: Adrian Zajac, Apo, Chris Bär Templiner, Frank T., Franky J., Gino, H. Peter Maier C.d.F., Halil, Horst Grimm, Hüdayi, Jürgen, Karim, Kurt Lummert, Marcel B., Paul E., Ramazan und Resul Tat
Es musizierten StipendiatInnen der Karajan-Akademie und StudentInnen der HfM "Hanns Eisler" Berlin: Ohad Cohen und Inga Vàga Gaustad (Violine), Kei Tojo (Viola), Clara Baesecke (Violoncello), Matiss Eisaks (Kontrabass) sowie Takahiro Katayama (Klarinette)
Premiere war am 19. Februar 2020.
Weitere Termine: 20., 21., 26.-28.02. / 04.-06., 11.-13.03.2020
Kooperation von GEFÄNGNISTHEATER aufBruch mit dem Education-Programm der Berliner Philharmoniker

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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