Frank Castorf inszenierte Carl Sternheim

Premierenkritik AUS DEM BÜRGERLICHEN HELDENLEBEN am Schauspiel Köln

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Carl Sternheim (1878-1942) satt: 4 Stücke, 1 Roman.

Alles zusammen von Frank Castorf flott und fröhlich abgekürzt und aufgemischt am Schauspiel Köln, Gesamtverweildauer: 6 Stunden.

Worum geht es?

"AUS DEM BÜRGERLICHEN HELDENLEBEN ist satirische Familienchronik und zugleich Porträt einer Epoche, Groteske des Spießbürgertums und scharfsinnige Analyse eines gärenden Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum der Tetralogie steht die Familie Maske. Der kleine Beamte Theobald Maske (DIE HOSE) schlägt aus einem Missgeschick seiner Frau – dem öffentlichen Verlust ihrer Hose und der daraus resultierenden Erotisierung der Nachbarschaft – Kapital und beginnt planvoll seinen gesellschaftlichen Aufstieg. Er wird von seinem Sohn Christian, einem skrupellosen Karrieristen (DER SNOB), bald überboten. Dieser sagt sich vom Vater los, heiratet in den Adel ein und wird erfolgreicher Unternehmer. In Rüstungsgeschäfte verstrickt, profitiert das Maske-Imperium von der kollektiven Kriegshysterie (1913) und Christians Tochter Christine übertrifft ihren Vater noch an Skrupellosigkeit. DAS FOSSIL schließlich wendet sich Traugott von Beeskow und der Weimarer Republik zu, wo restaurative Kräfte den revolutionären Ideen des Kommunismus gegenüberstehen. So entsteht das (Zerr-)Bild einer Zeit zwischen Aufschwung und Krise, Krieg und Begehren." (Quelle: schauspiel.koeln)

Eingebetteter Medieninhalt

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Außer der Familie Maske [s. Plot oben] spielt auch noch Europa oder Eura Fuld, und je nachdem wie dann die Hauptgestalt in Sternheims EUROPA-Roman von ihrem Autor benannt zu werden pflegte, eine nicht zu unterschätzende Rolle in der neuen Castorfoper; Lilith Stangenberg [zuletzt bei Castorf im Hamburger Haarigen Affen zu bewundern gewesen!] war als selbige gecastet, und sie widmete ihr prompt einen die Aufführung eröffnenden weit über halbstündigen Monolog. Da hockte sie, fast wie verloren, auf 'nem Barhocker vor 'nem barkeeperlosen Möbel ziemlich links in dem von Alexander Denić breitwandmäßig nachgebauten Restaurant zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs - die zwei Sophiensaele in Berlin in ihrem offensichtlichen Unrestauriertheitszustand taugten mir beim Anblick des grandiosen Bühnenbilds sofort als Assoziation. Lilith geriet selbstredend in den Fokus der sie abfilmenden Live-Kamermamänner Deinert / Baucks, und das erwies sich nachgerade als besonders hilfreich, weil die Lilith oftmals auch von ihrem Barhocker herunterturnend also unterhalb der Bar agierte resp. deklamierte, ja und überhaupt war ihre Textverständlichkeit (wie eh und je) sensationell!!!

Der hinsichtlich sämtlicher von dem Castorf willkürlich gehandhabten Sternheim-Vorlagen (= 4 Stücke, 1 Roman) diesmal und ausnahmsweise vollkommen werkunkundige Rezensent hatte und hat es dahingehend ziemlich gut, dass er sich - wie gewiss die meisten Rezipienten dieses relativ doch kurzweiligen Abends - völlig "unbeeinflusst" dem reichhaltig-spielerischen Angebot des Regisseurs entspannt-genüsslich hinzugeben in der Lage war. Klar, dass es angesichts der Großdauer des Großprojekts ganz unvermeidlich "Hänger" gab und man sich wiederum des Eindrucks nicht erwehren wollte, dass das schauspielernde Team guru-gesteuert auf der Stelle trat und es daher "nicht richtig" weiter und/oder vorangeh'n wollte. Doch egal, denn:

Inspirierend sind die Großopern dieses genial belesenen, kosmopolitischen Berliners allemal!

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Geschauspielert UND musiziert (Marlies Debacker live am Blüthner-Flügel!) wurde in gewohnt erwartbarer Vollkommenheit!! Und außer der von uns zwingend emporgehob'nen Lilith muss die nachstehende Namensliste vollständigkeitshalber aufgeführt sein: Sophia Burtscher, Bruno Cathomas, Melanie Kretschmann, Seán McDonagh, Peter Miklusz, Nikolay Sidorenko [CastorfsGrüner Junge hier am Haus vor über einem Jahr!] sowie Sabine Waibel. Ebenso die beiden Nebendarsteller Guillermo Malfitani und Horst Sommerfeld (als Kellner).

Adriana Braga Peretzki war erneut fürs sehenswerte Haute Couture gesamtzuständig.

Ja und ich, der Rezensent, habe ein ungefähres Bild davon gekriegt, wie's früher so bei diesen Großbürgern womöglich zugegangen war - trotz dass dann diesmal Müllers "Engel der Verzweiflung" leider fehlte.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 19.01.2020.]

AUS DEM BÜRGERLICHEN HELDENLEBEN (Depot 1, 17.01.2020)
nach Carl Sternheims Die Hose,Der Snob,1913,Das Fossil sowie dem Roman Europa

Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Video: Andreas Deinert
Soundtrack: William Minke
Licht-Design: Lothar Baumgarte
Dramaturgie: Julian Pörksen
Künstlerische Produktionsleitung: Sebastian Klink
Live-Kamera: Andreas Deinert und Simon Baucks
Ton: Wolfgang Kich und Max Kapitein
Mit: Sophia Burtscher, Bruno Cathomas, Melanie Kretschmann, Seán McDonagh, Peter Miklusz, Nikolay Sidorenko, Lilith Stangenberg und Sabine Waibel
Premiere am Schauspiel Köln: 17. Januar 2020
Weitere Termine: 19., 24.01. / 07., 09., 29.02.2020

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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