19. MUSIKFEST BERLIN eröffnet

Konzertkritik Das Royal Concertgebouw Orchestra aus Amsterdam musizierte Werke von Jörg Widmann und Gustav Mahler

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Gestern startete das neunzehnte MUSIKFEST BERLIN, bei dem es in den kommenden drei Wochen 28 Veranstaltungen mit über 60 Werken von etwa 45 Komponistinnen und Komponisten geben wird. Es ist das erste große hauptstädtische Highlight der begonnenen Theater- und Musiksaison 2023/24, und es strahlt seit Jahren weit über die Spreeufer hinaus und hat sich seinen festen Platz - vor allem im Kalender namhafter Orchester aus dem In- und Ausland - erobert. Dass das Fest ohne eine Zusammenarbeit der Berliner Festspiele GmbH mit der Stiftung der Berliner Philharmoniker (die sein ursprünglicher Ideengeber war) undenkbar wäre, kann als Binsenweisheit durchgehen; es löste seiner Zeit die bis da stattgefunden habenden Berliner Festwochen, dieses illustre Misch-Event des alten West-Berlin, endgültig ab und hatte sich sohin als überwiegend "reines" Orchesterfestival, als das es sich von Anfang an zu etablieren wusste, sein Alleinstellungsmerkmal verpasst.

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Das gastierende Royal Concertgebouw Orchestra - diesmal unter Leitung seines Ehrengastdirigenten Iván Fischer - eröffnete schon oft das Festival; im letzten Jahr spielte es beispielsweise unter seinem designierten neuen "Chef" Klaus Mäkelä ein Stück der in diesem Sommer leider viel zu früh verstorbenen finnischen Komponistin Kaija Saariaho sowie die Sechste Mahlers.

Diesmal setzte es erneut ein zeitgenössisches mit einem Werk des in Böhmen geborenen Österreichers ins Verhältnis; und weil die Symphonie Nr. 7 e-Moll von Gustav Mahler an sich schon, nicht nur zeitlich, mehr als überbordend ist, hatte dieses bemerkenswerte Eröffnungskonzert eine doch ziemlich lange Länge.

Zu reden ist besonders über den Teil 1 des wahrlich strapaziösen Abends:

Jörg Widmann (50) zählt zu den herausragendsten Komponisten unserer Tage, und sein Ruf (nicht nur als Tonsetzer, sondern wohl auch als Klarinettist und gelegentlicher Dirigent, als der er in den letzten Jahren immer mehr in Erscheinung trat und tritt) kann längst als "interkontinental" bezeichnet sein; das Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst bestritt bei seinem MF-Gastspiel 2014 einen ganzen Abend ausschließlich mit Widmann-Werken.

Gestern nun erklangen fünf seiner (von den Amsterdamern üppig begleiteten) Lieder aus dem Zyklus Das heiße Herz, den Widmann ursprünglich für Bariton und Klavier komponierte, welchen er dann (in dieser Fassung) 2013 veröffentlichte. Acht Stücke sind es insgesamt - 2018 hatte er sie schließlich für Bariton und Orchester umgearbeitet.

"Auch wenn die Vorlage immer wieder durchscheint, ist die neuere Fassung monumental und kommt einer Übermalung näher als einer Instrumentation. Als gleichsam ultimative Abgrenzung erscheint das Klavier als Teil des Ensembles über weite Strecken untergeordnet; den Klaviersatz übernehmen dann etwa Harfen, Celesta und Akkordeon, und die zahlreichen Schlaginstrumente tauchen den Klang in ein gänzlich unpianistisches Ungefähr. In der zweiten Strophe des letzten Lieds 'Einsam will ich untergehn' – es ist ungefähr so lang wie alle anderen Lieder in dieser Auswahl zusammen – ist das 'Tauchen' sogar wörtlich zu verstehen, wenn eine Röhrenglocke in einem Wasserbottich versinkt." (Olaf Wilhelmer im Programmheft)

Apropos "Einsam will ich untergehn" - achtmal steht diese Verszeile im todessüchtigen Gedicht Clemens Brentanos (einem echten Vorzeiger, was spätromantische Lyrik Anfang des 19. Jahrhunderts betrifft). Und von den Widmann-Stücken, die ich bisher rezipierte (und das war'n bestimmt nicht wenige) ist dieses Lied das schönste, was ich jemals hörte. Michael Nagy sang es mit einer derartigen Inbrunst, dass es mir die Tränen in die Augen trieb.

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Nach der Pause Mahlers Siebte.

Ich hatte sie bisher wohl nicht sooft gehört wie die neun anderen (einschließlich der von Deryck Cooke vervollständigten Zehnten), und da wird es mir womöglich ähnlich gehen wie manch anderm Mahler-Fan; denn in den anderen neun Exemplaren gibt es "wenigstens" dann immer einen Satz, zumeist ist es der langsame, den mitzuschwelgen einfach Freude und Erhabenheit bereitet, mitleidorgienlastig; ja und in der Siebten fehlt nun mal (trotz ihrer beiden Nachtmusiken) so ein ganz bestimmter nachsummbarer Satz.

Je öfter und je intensiver ich mir allerdings die Siebte zu Gemüte führte, wurde sie mir mehr und mehr sympathisch, und obgleich - ich geb' es zu - ihr konzeptioneller Kosmos meinem willentlichen Mitgehen/ Mitfühlen beim direkten (also live) und/ oder beim verinnerlichten Hören (also unter Kopfhörern) im Wege steht. Ich bin zwar jedesmal von Neuem völlig baff, was Mahler da an für mich völlig unerwartbaren Ideen klanglich anbietet, und manchmal frage ich mich hochbesorgt, bin ich tatsächlich (nicht nur intelektuell) beschränkter als so mancher Mahler-Fan weit außerhalb von mir, dass ich partout nicht auf des Pudels Kern von diesem Ungetüm an Sinfonie zu stoßen komme.

Im Programmheft las ich dahingehend Tröstliches, denn selbst der legendäre Georg Solti meinte einst:

„Die Siebente habe ich seltener dirigiert als die anderen Mahler-Symphonien. Sie ist ein seltsames Werk. Besonders der erste Satz wirkt wie ein Alptraum. Es kommt mir vor wie das Werk eines Verrückten.“

Allerliebst.

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Iván Fischer holte aus den Amsterdamern raus, was (für ihn) rauszuholen wichtig war! Beim zweiten Nachtstück übertrieb er's dahingehend, dass ich zwar die Mandoline irgendwie noch 'raushörn konnte, aber die Gitarre nicht.

Genial gemeisterte Instrumentalsoli (Horn, Trompete, Posaune, Violine, Cello, Bratsche usw.), alles tadellos.

Tolles Orchester!

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 27.08.2023.]

MUSIKFEST BERLIN (Philharmonie Berlin, 26.08.2023)
Eröffnungskonzert

Jörg Widmann: Das heiße Herz, Liederzyklus für Bariton und Orchester (Auswahl)
- "Der arme Kaspar"
- "Hab’ ein Ringlein am Finger"
- "Das Fräulein stand am Meere"
- "Kartenspiel"
- "Einsam will ich untergehn"

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 7 e-Moll
Michael Nagy, Bariton
Royal Concertgebouw Orchestra
Dirigent: Iván Fischer

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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