PIQUE DAME mit den Berliner Philharmonikern

Konzertkritik Tschaikowskys Kartenspielsucht-Oper, dirigiert von Kiril Petrenko

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Wer keine Lust (oder kein Geld) hatte alljährlich zu den Osterfestspielen nach Salzburg oder Baden-Baden zu verreisen, hatte - einer guten Sitte der Berliner Philharmoniker gehorchend - stets Gelegenheit, die in den teuren Städten jeweils anstehenden Festspielproduktionen nachträglich als konzertante Aufführungen im Berliner Hans-Sharoun-Bau zu erleben. Und so war und ist es auch in diesem Jahr:

Pique Dame stand/ steht - als Hauptereignis - auf dem Baden-Badener sowie Berliner Zettel; ich für meinen Teil tat das dann gestern Abend konzertantermaßen nachverfolgen. In Tschaikowskys Oper gibt es zwei besonders vorstechende Rollen, deren Interpretinnen und Interpreten immer schon im Fokus weltweiter Berichterstattungen gestanden hatten - Hermann sah und hörte ich 2003 mit Plàcido Domingo (in der Lindenoper), und die Gräfin wurde in 2009 von Anja Silja (an der Komischen Oper Berlin)mehr als bedeutsam auf- und vorgeführt; von daher war und bin ich also ziemlich vorbelastet.

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"Hermann, wie Tschaikowsky ihn darstellte, war ganz und gar sein eigenes Geschöpf. Er hatte ihn sich so geformt, wie er ihn brauchte, um in die richtige Stimmung zum Komponieren zu geraten – und das klappte nur, wenn er sich in ihn hineinversetzen, sich mit ihm rückhaltlos identifizieren konnte Mit dem Hermann, wie er in der literarischen Vorlage zur Oper, in Alexander Puschkins Erzählung Pique Dame, geschildert wurde, hatte dieses Profil allerdings wenig gemein. [...] Wie ein Junkie ist er dem Glücksspiel verfallen, hängt Abend für Abend in den Petersburger Salons ab, wo er, zitternd vor Begierde, das Geschehen am Spieltisch verfolgt, allerdings ohne jemals selbst den Einsatz zu wagen. Das ändert sich, als er hört, dass eine alte Gräfin das Geheimnis dreier unfehlbarer Karten kenne. Hermann setzt nun alles daran, diese Erfolgsformel zu erfahren. Nur deshalb – und nicht aus Liebe – macht er sich an die junge Lisa heran, bei Puschkin ein Pflegekind der Gräfin. Er überlegt sogar, ob er sich nicht selbst der 87-Jährigen als Liebhaber anbieten sollte. Als das Verhängnis seinen Lauf nimmt, endet Puschkins Hermann im Irrenhaus. Auch Lisa bleibt am Leben: Sie 'hat sich mit einem sehr liebenswürdigen jungen Mann vermählt. Er ist irgendwo angestellt und bezieht ein anständiges Gehalt', lässt Puschkin das Lesepublikum am Ende lapidar wissen." (Susanne Stähr auf berliner-philharmoniker.de)

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Der ins Deutsche übersetzte Operntext wurde mit gelber Leuchtschrift mitgeteilt, und mich befiel sogleich am Anfang eine Emotionalattacke - habe daher jetzt, nachdem ich mich etwas beruhigte, nochmals nachgeschlagen, was ich da, in etwa jedenfalls, zu lesen glaubte:

"Wir sind hier alle versammelt,
den russischen Feinden zur Abschreckung.
Böser Gegner, hüte dich,
Mach dich davon mit deinen üblen Absichten,
Oder unterwirf dich! Hurra!
Das Vaterland zu schützen ist unser Los.
Wir stehn bereit zu kämpfen und die Feinde
Ohne Zögern gefangenzunehmen!
Hurra! Hurra! Hurra!
Es lebe die Frau, die allweise Zarin,
Uns allen ist sie Mutter, und aller Länder Herrscherin,
Und Stolz und Zier!
Hurra! Hurra! Hurra!"

Das [s.o.] sangen dann die Jungen vom Karlsruher Cantus Juvenum; es sind die Eingangsverse, die die Kriegsspiele der Kinder im russischen St. Petersburg der "ersten Hälfte des 19. Jahrhunderst" (= Zeit der Handlung) demonstrieren - ja und tauschte man die "Zarin" dieser Verse mit der Schreckensformel "Putin" aus, wäre man justament sofort im Heute, und besagte Verse würden sich mit Putins "Z"-gemeinter Anti-Ukraine-Propaganda irrsinnigsterweise überschneiden, um nicht gar zu sagen: decken. Doch das nur am Rande.

Die sechs russischen Gesangssolistinnen und -solisten Elena Stikhina (als Lisa), Vladislav Sulimsky (als Graf Tomski), Boris Pinkhasovich (als Fürst Jeletzki), Aigul Akhmetshina (als Polina und Mascha), Yevgeny Akimov (als Tschekalinsky) und Margarita Nekrasova (als Gouvernante) inklusive ihres belarussischen Kollegen Anatoli Sivko (als Surin) verbreiteten unüberhörbar einen Eindruck, wie "russische Seele", wenn sie sich in Friedenszeiten auslebt, halt so klingen könnte. Durch und durch authentisch, ohne jede Frage.

Der armenische Tenor Arsen Sopghomonyan kehrte den problematisch in sich aufgespalteten und zwischen Spiel- und Liebessüchten hin und her geworf'nen Hermann mittels ungeheuerlicher Ausbrüche seines zu exzessiver Lautstärke tendierenden Stimmapparats heraus.

Und die die mysteriöse alte Gräfin, Hermanns eigentliche Gegenspielerin, aufs Hochgeniale darstellende als wie singend deklamierende Altistin Doris Soffel sorgte dahingehend (und ganz unfreiwillig) für die allgemeinsten Lacher, als sie ihren Abgang nach dem tödlichen Chanson verpasst zu haben und sie diesbezüglich von der "Todesposition" links neben dem derweil über seinePique Dame-Noten gebeugten Kiril Petrenko aus kurz anzufragen schien, ob oder wann sie jetzt den Saal verlassen sollte oder müsste; ungeachtet dessen war sie freilich, und de facto, DER Zentral- und Haupthingucker/ -horcher dieses allzu langwierigen konzertanten Opernabends!

Tosende Begeisterung.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 22.04.2022.]

PIQUE DAME von Tschaikowsky (Philharmonie Berlin, 21.04.2022)
Konzertante Aufführung

Besetzung:
Arsen Soghomonyan (Hermann)
Vladislav Sulimsky (Graf Tomski)
Boris Pinkhasovich (Fürst Jeletzki)
Yevgeny Akimov (Tschekalinski)
Anatoli Sivko (Surin)
Christophe Poncet de Solages (Tschaplitzki/ Zeremonienmeister)
Mark Kurmanbayev (Narumow)
Doris Soffel (Gräfin)
Elena Stikhina (Lisa)
Aigul Akhmetshina (Polina/ Mascha)
Margarita Nekrasova (Gouvernante)
Slowakischer Philharmonischer Chor
(Einstudierung: Jozef Chabron)
Cantus Juvenum
(Einstudierung: Clara-Sophie Bertram und Lorenzo de Cunzo)
Berliner Philharmoniker
Dirigent: Kiril Petrenko

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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