MICHAEL KOHLHAAS an der Schaubühne Berlin

Premierenkritik Kleist-Prosa als Fließtext-Stück

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Meine persönliche Erfahrung mit Michael Kohlaas ist von Abwehr und Ehrgeiz zugleich geprägt.

Ich greife zu Band 3 der schönen vierbändigen Kleist-Ausgabe des Aufbau-Verlags von 1978 (in Leinen gebunden!) und sehe viele, viele dünne Unterstreichungen mit Bleistift - allesamt von mir, tatsächlich.

Mehr als hundert Buchseiten umfasst der Fließtext; derart "Zusammengepresstes" torpediert von vorn herein den Seh-, vor allem aber Lesewillen. Heute könnte ich mir solche Prosabomben nicht mehr freiwillig, auch nicht mit Hilfe einer extrastarken Lesebrille, reinziehen.

Kurzum:

Als Mittzwanziger hatte ich - nachdem ich mich sehr wissensdurstig durch die Kohlhaas-Prosa kämpfte - ein Bearbeitungsgelüst; ich meinte so für mich, dass in dem Kohlhaas so viel (zu viel) Stück-Stoff steckt, dass man ihn zwanghaft hierzu bändigen und also straffen müsste; und ich fing zu dialogisieren an... Hiermit (und freilich mit noch anderem) bewarb ich mich dereinst am Becher-Institut in Leipzig, das mich daraufhin zum Studium zuließ.

Und obgleich mir heute - Jahre und Jahrzehnte später - klar ist, dass es völlig sinnlos war drauf los zu dialogisieren.

Denn der Kleist hätte aus seinem Kohlhaas-Stoff - anstatt ihn fließtextmäßig auszuwalzen - eine Stückversion verfassen können, hätte er gewollt. Nein, hat er aber nicht.

Er hat genauso viele Stücke wie Erzählungen geschrieben, jeweils acht; und seine Dramen und Komödien sind natürlich - aus der Perspektive eines Stückeschreibers (wohl gemerkt) - viel besser als die Prosa, die er hinterließ!

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Es scheint Kohlhaas-Bearbeitungen ohne Ende zu geben, und der kollektive Ehrgeiz bremst die individuelle Abwehr immer wieder auf das Neue aus - was das nur ist?!

Die Schaubühne Berlin hat seit 2014 einen Haus-Essayisten unter Vertrag, es handelt sich um den kanadischen Autor und Kulturhistoriker Dr. Joseph Pearson; Pearson's Preview nennt sich seine Reihe, und in einem seiner neuesten und aktuellen Beiträge findet sich eine griffige Zusammenfassung dessen, worum es der Schaubühne (Regie: Simon McBurney, Annabel Arden) gerade ging:

"'Michael Kohlhaas', 1810 von Kleist geschrieben, basiert auf den realen Nöten eines Pferdehändlers aus dem 16. Jahrhundert. Ein Adliger fügt Kohlhaas Unrecht zu, indem er seine Pferde festhält und hungern lässt und seinen Einfluss vor Gericht nutzt, um den Mann daran zu hindern, Gerechtigkeit zu suchen. Nachdem Kohlhaas' Frau in den Streit hineingeraten ist und mit ihrem Leben bezahlt hat, führt der Händler Krieg gegen seine Feinde, brennt deren Besitz und Städte nieder und fordert Gerechtigkeit."(Aus: Eine Antwort auf das Abstand halten: "Michael Kohlhaas" von Joseph Pearson)

Und schließlich:

"'Wenn wir über die moralischen Aspekte des Textes nachdenken: Kämpft Kohlhaas für das Allgemeinwohl oder ist er ein Kleinkrimineller? Ist Gewalt ein angemessener Weg nach vorn, wenn der Staat nicht für Gerechtigkeit sorgen kann?' frage ich." (dto.)

Eingebetteter Medieninhalt

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Zwei Stunden lang sprechen und spielen Robert Beyer, Moritz Gottwald, Laurenz Laufenberg, David Ruland, Genija Rykova und Renato Schuch (als Titelheld) scheinbar den ganzen Fließtext - scheinbar deshalb, weil es mir beim Zuhören so vorkommt, dass es nie und nimmer endete; natürlich ist es, höchstwahrscheinlich, nur ein Teil des furchtbar anstrengend sich anhörenden Fließtexts, der da durch die Sprechkehlen der einen Frau und der fünf Männer zu mir 'rüber klingt, ja und sie sprechen auch nicht, wie man denken würde, "mit verteilten Rollen", jedenfalls nicht nur, nein, sie zerhacken Kleists umständlich lange Sätze, um sie mir als leichtverdaulicher sich gebendes Sätzeteilfutter hinzubröseln, und das macht es auch nicht kurzweiliger, ganz im Gegenteil.

O wie ich leide.

Immerhin gibt's optisch Grund zur Freude, wenn z.B. die zwei nackten Oberkörper Laurenz Laufenbergs und Moritz Gottwalds hin und wieder der geneigtesten Betrachtung anempfohlen sind.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 02.07.2021.]

MICHAEL KOHLHAAS (Schaubühne Berlin, 01.07.2021)
in einer Fassung von Simon McBurney, Annabel Arden, Maja Zade und dem Ensemble

Regie: Simon McBurney und Annabel Arden
Bühne: Magda Willi
Kostüme: Moritz Junge
Sounddesign: Benjamin Grant
Mitarbeit Sounddesign: Joe Dines
Video: Luke Halls
Mitarbeit Video: Zakk Hein und Sébastien Dupouey
Dramaturgie: Maja Zade
Licht: Erich Schneider
Produktionsleitung London/ GB: Judith Dimant, Wayward Productions
Mit: Robert Beyer, Moritz Gottwald, Laurenz Laufenberg, David Ruland, Genija Rykova und Renato Schuch
Premiere war am 1. Juli 2021.
Weitere Termine: 02., 04., 06.-11., 13.-18.07. / 17.-22.08.2021
Kooperation mit Wayward Productions, London

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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