PARSIFAL durch Achim Freyer und Kent Nagano

Premierenkritik Angeknipstes Nachttischlämpchen auf zwei Beinen an der Hamburgischen Staatsoper

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Die letzten hauptstädtischen Arbeiten von Achim Freyer (83) - einer wahren Lichtgestalt deutscher Regie-, Bühnen- als wie Kostümbildkunst im 20. und 21. Jahrhundert - waren nicht die allertollsten; insbesondere an seiner eigentlich wohl allerersten Spiel- und Wirkungsstätte, dem BE (der Ostberliner Freyer war ja immerhin ein Meisterschüler Brechts), scheiterte er in jüngster Zeit mit relativ doch kläglich anzuschauenden Projekten wie z.B. seinem Abschlussball - selbst seine letzte Ausstattung an diesem Haus, zu Peymanns Prinz Friedrich von Homburg-Inszenierung, war schier unterbutternswert.

Was Freyer allerdings dann immer schon gekonnt hatte, war Operninszenieren! Kein Haus, das sich irgendwie bedeutsam nennt, verzichtet(e) nicht wenigstens dann einmal, ihn als Regisseur auf Zeit an sich zu binden; und von Cavalieris Rappresentatione di Anima et di Corpo über Tschaikowskis Eugen Onegin bis zu Wagners Ring reichte und reicht seine Palette - sicher war er sich dann jedesmal, sein zuschauendes Publikum kräftigst polarisiert zu haben. Nunmehr wollte auch die Hamburgische Staatsoper, die gestern Abend unterm Dirigenten Kent Nagano - dessen 2011er Münchner Zusammenarbeit mit Hermann Nitsch, einem gewissermaßen ähnlich-vielseitig sich darstellenden Multikünstler von Rang, uns noch allgegenwärtig in Erinnerung ist - ihren neuen Parsifal Premiere feiern ließ, an Freyers legendärer Aura wieder einmal teilhaben; Die Zauberflöte Freyers (1982) hielt sich 34 Jahre im Hamburger Spielplan, immerhin.

Ja und wie lief das zeitraubende Wagner-Wagnis ab?

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Es dauerte und dauerte und dauerte...

Bis gestern Abend wog man sich (noch) immer in der hinlänglichen Annahme, dass Daniel Barenboim für die in unsern Tagen zeitlich ausgedehntesten und breit gezogendsten Parsifal-Interpretationen stand; das schwankte zwar dann oftmals in den Tempi, je nach Laune und Details, aber "am längsten" schienen sie dann schon; bisher.

Jetzt hatte Kent Nagano seine aktuelle "Sicht der Dinge" mit dem fulminant-präzise als wie sattsam-wohl klingenden Philharmonischen Staatsorchester Hamburg inkl. Chor der Staatsoper Hamburg(Einstudierung: Eberhard Friedrich) unters Hörvolk bringen wollen - alles, wie schon angedeutet, unendlich und überlang und (was das Ohrenscheinlichste bei allem war und ist!) in einem einzigen und immer gleichbleibenden Tempo, also ohne abdriftendes Schwanken; dass es stellenweise unheilvoll, unheimlich oszillieren sollte, tat diesem strikt durchgehalt'nen Klang-Konzept noch zusätzlich gefallen, unterstrich das mehr noch Intellektuelle dieses bahnbrechenden Dirigats!

Was [s.o.] kongenial zur Folge haben musste, dass am sog. Bühnenweihfestspiel an sich letzthin "nur noch" das reinweg Musikalische an sich obsiegend zu erkennen war - der handlungshafte Schwachsinn jenes blödsinnigen Dauergrabgesanges für Debile (Text vom Komponisten) konnte sich, halt durch die starkleimige Darreichung des insgesamten Kleisterbreis, aufs Wunderbarste und aufs Lustigste entlarven, und: DAS nutzte Künstler Freyer selbstverständlich hochgenüsslich-attentatgleich aus und gab dem großen Affen Riesenzucker!!

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Unvergesslich, um nur eines von zig Beispielen hier anzuführen: Freyers Gralsenthüllungsszene.

Er ließ hier ein kleines Mädchen mit 'nem weißen und von innen grell-leuchtenden Tüllröckchen vom rechten bis zum linken Bühnenrand in Zeitlupe vorbei gehen; es hatte einen rosaroten Plüschhasen im Arm [ermöglichte, bei mir, sofort die Assoziation zu Schlingensief's Verwesungsszene mit dem Dürerhasen; Bayreuth 2004-07]; die Fokussierung auf den weißlichtenen Tüll hatte zur Folge, dass es fast so aussah, wie als wäre hier ein angeknipstes Nachttischlämpchen auf zwei Beinen unterwegs - und so gelangte man gedanklich zu dem Schluss, dass es nicht gut sein kann, wenn strenggläubige Männer-Zwangsvereine Zölibat & Sexverbot (rein theoretisch) kultivieren, während ihre sohin unterdrückten Triebe anderweitig "Möglichkeiten" der Betätigungen (Kindesmissbrauch usw.) suchten und auch fänden.

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Kurz noch zum Gesangssolistischen:

Andreas Schager / Claudia Mahnke (aus der nachrückenden Riege der jüngeren SängerInnen-Generation) machte ihr Doppel-Auftritt als Tor-Trottel Parsifal und Zottel-Zarah Kundry sichtlich Spaß; der Schager bringt sich ja jetzt allerorten als nicht nur gut singender sondern auch blendend aussehender Startenor weltweit in Position, und Mahnke fiel bereits als spielwütige Fricka in dem Castorf-Ring oder (wie letztes Jahr im Tristan) als Brangäne auf dem Grünen Hügel auf.

Auch Vladimir Baykov (Klingsor) und Wolfgang Koch (Amfortas) wirkten frisch und unverbraucht.

Und Kwangchul Youn (als Gurnemanz) - er hat die nervtötende Schlaf-Erzähler-Onkel-Partie seit Jahrzehnten respektabel drauf - heimste den heftigsten Applaus unter den vier Protagonisten ein; allein dass er vom Künstler Freyer als 2-Kopf-Installation "benutzt" wurde, könnte ihm etwas weniger gefallen haben.

Exzeptioneller Gruppen-Auftritt der Sex-Blumenmädchen [Namen s.u.]!!!!!!

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Hochspektakulär.

Ein Kunstwerk, ohne jede Frage.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 17.09.2017.]

PARSIFAL (Hamburgische Staatsoper, 16.09.2017)
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Inszenierung, Bühne, Kostüme und Licht: Achim Freyer
Mitarbeit Regie: Sebastian Bauer
Mitarbeit Bühnenbild: Moritz Nitsche
Mitarbeit Kostüm: Petra Weikert
Lichtdesign: Sebastian Alphons
Video: Jakob Klaffs/Hugo Reis
Dramaturgie: Klaus-Peter Kehr
Besetzung:
Amfortas ... Wolfgang Koch
Titurel ... Tigran Martirossian
Gurnemanz ... Kwangchul Youn
Parsifal ... Andreas Schager
Klingsor ... Vladimir Baykov
Kundry ... Claudia Mahnke
Gralsritter ... Jürgen Sacher und Denis Velev
Knappen ... Narea Son, Ruzana Grigorian, Sergei Ababkin und Sascha Emanuel Kramer
Blumenmädchen: Athanasia Zöhrer, Hellen Kwon, Dorottya Láng, Alexandra Steiner, Gabriele Rossmanith und Nadezhda Karyazina
Stimme aus der Höhe: Katja Pieweck
Chor der Hamburgischen Staatsoper
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Premiere war am 16. September 2017.
Weitere Termine: 24., 27., 29.09. / 03.10.2017

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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