Paul Hamy ist DER ORNITHOLOGE

Filmkritik Über ein bild- und tonrauschiges Filmkunstwerk des Drehbuchschreibers, Regisseurs und Schauspielers João Pedro Rodrigues

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"Auf der Suche nach einer seltenen Storchenart ist der Ornithologe Fernando mit seinem Kajak auf einem Fluss im Norden Portugals unterwegs. Über sein Handy hält er Kontakt zu seinem Partner Sérgio, doch die Gegend ist so abgelegen, dass die Verbindung immer wieder abbricht. Überwältigt von der Schönheit der Natur, gerät Fernando in eine Stromschnelle, kentert und verliert das Bewusstsein. Als er wieder erwacht, haben ihn zwei chinesische Pilgerinnen aus dem Wasser gezogen, die ganz eigene, bizarre Pläne mit ihm haben. Fernando muss sich vor seinen Helferinnen retten und alleine durch den dichten Wald kämpfen, vorbei an mysteriösen Hindernissen und erotischen Begegnungen. Der Weg führt ihn an seine körperlichen und geistigen Grenzen. Wie durch ein Wunder wird er am Ende ein anderer Mann sein." (Quelle: ornithologe-film.de)

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In seinem an Bildern und Tönen (Wasser-Wald-und Vogellaute!) so "ausgewogen"-rauschhaft angelegten Film Der Ornithologe hat João Pedro Rodrigues eine spirituelle und v.a. gleichnishafte Ode an die Natur geschaffen, und von Anfang an vermeint man also mittendrin in dieser wahrhaft göttlich vorsehenden Abgeschiedenheit von jedweder die eigentlich ja wunderschöne Menschenseele grausam piesackenden Zivilisation zu sein. Der wunderbare Paul Hamy (als Ornithologe) lässt uns freilich hin und wieder auf die möglich-letzten Reste seiner wasser-, wald- und vogellautelosen Hemisphäre stoßen - wenn er beispielsweise SMS von seinem Freund, der höchstwahrscheinlich weitweit weg am andern Ufer sehnsüchtiger Weise auf ihn harrt und ihn sehr dringend an die Einnahme seiner Tabletten mahnt ("...will dich lebendig wieder" tippte er) erhält.

Zusehends werden etliche Kultur-, Ethno- und Religionsmetaphern, die der zauberhafte Film auf schier bestürzend ansehliche Weise hochhält, offenbar - will sagen, dass dem Helden der Geschichte "seine Zivilisation", bei aller noch so abdrängenden oder fortflüchtenden Absicht, auf belästigende und noch mehr beängstigende Art, erhalten bleibt:

Das Aufeinandertreffen mit den beiden christlichen Chinesinnen (Han Wen als Fei und Chan Suan als Ling), die sich vom Jakobsweg, worauf sie eigentlich touristisch wandeln wollten, wegverlaufen hatten, und die ihm dann eigentlich das Leben retteten, als er mit seinem Kanu kenterte und lange Zeit bewusstlos dalag, endete mit seinem heimlichen Reiß-Aus, nachdem sie ihn, weil er sich halt vor ihnen als ein Atheist geoutet hatte, fesselten und gar kastrieren wollten; so behaupteten sie jedenfalls mit ihrem blöden Mädchenkichern nachts im Zelt.

Nachdem er Jesus (gespielt von Xelo Cagiao), einem taubstummen und Ziegenmilch gleichsam vom Euter saugenden Hirten, mitten in seiner Herde angetroffen hatte, kam es ganz abrupt zu einer gefahrvollen Situation für ihn, in der er aus der Notwehr und zugleich versehentlich Jesus mit dessem Klappmesser erstach.

Eine mehr heidnisch anmutende Zeremonie von nachts im Wald herumtollenden Wesen mit Masken und Kostümen ähnlich denen aus dem alemannischen Fastnacht-Raum flößte ihm neugieriges Staunen ein...

Viel später stieß er dann auf einen leblos Daliegenden dieses wunderlichen Treibens; und es handelte sich allzu plötzlich um den Zwillingsbruder Jesus', dem er justament durch einen Kuss von Mund zu Mund den Lebensatem wieder einzuhauchen sich entschloss; der Totgewesene nannte nun seinen Namen, Tomé (Thomas) - - doch da war Fernando (unser Ornithologe) längst zum Heiligen Antonius metamorphisiert worden; ab diesem Augenblick spulte der Regisseur höchstselbst als schauspielerndes Spiegel-Ich die von ihm ausgedachte Rolle weiter...

Vor dem Ortsschild Padova (= Padua) - quasi dem Wiedereintritt in die Zivilisation - fasst sich das Traumpaar, Thomas & Antonius, bei der Hand und tänzelt, beinah vor Vergnügen, in die neue Zeit; die zwei Chinesinnen von vorher jubeln ihnen von der andern Straßenseite 'rüber.

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"Der Heilige Antonius ist als Figur in der portugiesischen Kultur und Gesellschaft allgegenwärtig. Während er auf der ganzen Welt zu den berühmtesten christlichen Heiligen gehört, hat die Aura des Franziskaners und Theologen in Portugal einen besonderen Einfluss. Dies liegt sicher zum einen daran, dass er aus Lissabon stammt, wo er zwischen 1191 und 1195 geboren wurde und auf den Namen Fernando getauft wurde. Aber vielleicht auch daran, dass sein Leben eines der Reihe zu Wasser und zu Lande war - wie das vieler berühmter Landsleute.

Wie viele andere Portugiesen weiß ich, dass Fernandos Boot bei seiner Rückkehr von einer Mission in Marokko von einer stürmischen See erfasst und an die Küste von Sizilien getrieben wurde. Von dort machte er sich auf zu seiner legendären Reise bis nach Padua, wo er im Jahr 1231 starb - der Name der Stadt wurde später seinem Heiligennamen beigefügt." (João Pedro Rodrigues über seinen Film)

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Unvergessliche Bilder und Töne.

Ja, wer diesen Film verpasst, versäumt womöglich etwas von und über sich erkannt zu haben.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 19.07.2017.]

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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