BARACKE von Rainald Goetz uraufgeführt

Premierenkritik Iris Laufenberg krönt ihren Intendantinnenstart am Deutschen Theater Berlin mit einem brandneuen Familienstück

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Mit dem Wortpaar "Ankommen. Aufbrechen." apostrophiert die Chefetage vom DT Berlin, wohin der Hase in der Schumannstraße 13a ab itzo laufen soll - zu sehen gewesen auf der sog. Interimswebseite der neuen Intendanz von Iris Laufenberg (57):

"Ein Ort für die Vielen: Das schwebt uns vor, wenn wir an die Zukunft des Deutschen Theaters denken. Wir, das sind Schauspieler:innen aus Graz, Berlin und anderswo, Regisseur:innen, Autor:innen und Teams aus dem In- und Ausland. Wir kommen aus unterschiedlichsten Kontexten. Wir arbeiten alle unter einem Dach, sind mittendrin und im Kontakt miteinander. Und beabsichtigen, mit unserer Vielstimmigkeit Theater über die Stadt und über den Moment hinaus zu machen.
Wir planen Zeitgenössisches in hoher Frequenz. Den Fortbestand des Festivals ATT. Ur- und Erstaufführungen. Alte Texte, die ins Heute sprechen. Humor. Musik. Puppenspiel. Und Zwischentöne, die dem Deutschen Theater als Ort der leisen Dissidenz und Vor-Ort politischen Handelns gerecht werden.
Komplizenschaft, Bandenbildung: Dafür scheint das DT wie gemacht. Wir arbeiten unter einem Dach, sind mittendrin und vorn dabei. Für Begegnungen sorgt ab der Spielzeit 2023/24 auch die neue Abteilung DT Kontext, die das Bühnenprogramm mit Formaten wie Gesprächen und Werkstätten begleitet. Das Junge DT wird zu DT Jung*: offen für alle, die Lust haben, sich am Theater einzubringen. Denn Jugend ist keine Frage des Alters, sondern der Haltung."
(Quelle: neu.deutschestheater.de/IrisLaufenberg.html)

Nun hat sie also das Theater-Urgestein Ulrich Khuon (72) nach dessen 13 Intendantenjahren abgelöst und will in dem altehrwürdigen Hause (hoffentlich nicht minder prägend und erfolgreich wie ihr charismatischer Vorgänger) schalten und walten, und wir wünschen ihr viel Freude und Gelingen bei der Arbeit!

Gleich mal drei Uraufführungen setzte Laufenberg zum Anfang ihrer ersten Spielzeit an: Weltall Erde Mensch von Alexander Eisenach (39), Sneaker oder Was bleibt uns übrig von Hannah Zufall (36) und - als Krönung dieses Triples - Baracke von Rainald Goetz (69):

"Aus einer Clique von Jugendlichen aus dem thüringischen Krölpa, die um 1977 geboren sind, geht ein Paar hervor. Bea und Ramin erfahren die Liebe, die wieder vergeht. Später verbindet sich Bea mit einem anderen Mann aus der früheren Jugendclique: Uwe ist Teil jener Bewegung, die in Opposition geht zu der Elterngeneration und sich radikalisiert. Mit Uwe bekommt Bea ein Kind, mit ihm entsteht Familie. Die Fäden der Verwandtschaft reichen bis nach Westdeutschland, wo die Drei im Kreis der Münchner Großfamilie Hochzeit feiern. Später verlässt die Familie die ärmlichen Verhältnisse in Krölpa und zieht in das Dresdner Villenviertel Weißer Hirsch. Doch die Vergangenheit wird zur Gegenwart. Die Familie scheitert. Für den Vater bleibt nur, die letzte Konsequenz zu ziehen.

Baracke ist ein Familienstück: über Familie, Gewalt und über Deutschland. Es erzählt den Lebenslauf der Liebe über gut dreißig Jahre, über eine Generation hinweg. Zur Wahrheit der Familie gehört die von Anfang an präsente Gewalt, das Geheimnis, der Horror. Über allem schwebt das Schweigen der Väter, das Aussparen der Wahrheit, die Erstarrung der Mütter – und das Weiterleben in den Körpern der Kinder, von Generation zu Generation."

(Quelle: deutschestheater.de)

*

Es geht in diesem Stück außer um Familiäres allgemein - "Alle Gewalt geht von der Familie aus", sagt Goetz - auch um das NSU-Trio, d.h. vielmehr oder viel weniger um zwei der Mitglieder dieser terroristischen Neonazi-Clique. Mareike Beykirch & Janek Maudrich spielen Bea & Uwe, und gemeint sind Beate Zschäpe und der eine von den beiden Uwe's, also U. Mundlos oder U. Böhnhardt. Und weil Bea allerdings (vor Uwe) noch 'nen anderen vorübergehend liebte, nämlich Ramin (gespielt von Jeremy Mockridge), sind diese von Goetz gelegten NSU-Fährten, die ich dann lediglich anhand des Dramaturgenbeitrags Terror im System von Daniel Richter (s. Flyer) mitgeteilt bekomme, unverbindlicher als sich das insgesamt wohl denken ließe. Nein, im Stücktext selbst, sofern ich das akustisch wahrnahm, tauchen ihre bürgerlichen Namen inkl. ihrer Kurzviten mitnichten auf. Also ist Goetz' Baracke in der Tat dann kein Historien- sondern ein Familienstück. Andri Schenardi und Natali Seelig sind als Vater und Mutter (von Bea?) identifizierbar, und sie hassen sich seit Jahren und Jahrzehnten wie die Pest; so wie im wahren Leben halt. Aber wer Evamaria Salcher sein sollte, erschloss sich mir beim besten Willen nicht; irgend so 'ne Todesbotin mit viel hängendem Gewebe? oder doch des Teufels Großmutter sogar??

Ja und die quälend lange Zuhör-/Zuschauzeit von über 2 Stunden und 30 Minuten - es wird ja pausenlos, also fast pausenlos, geredet und geredet und geredet - frage ich mich, was es eigentlich mit diesem Titel auf sich hat. Ist die Baracke die total verengt gewordene Behausung irgendwelcher anonymer Familys mit VaterMutterKind oder das überdachte Waffenlager der missratenen und tollwütig gewordenen (Familien-)Kids?

Der Flyer vermittelt mir den vierteiligen Stückaufbau (I. Party/ II. Liebe/ III. Freunde/ IV. Familie). Und Regisseurin Claudia Bossard schien sich auch ganz brav daran zu halten. Zwischendurch lässt sie ein bisschen klassische und Popmusik singen und musizieren; Janek Maudrich spielt in dem Zusammenhang ziemlich gut Cello, aber das nur nebenbei bemerkt.

Am Schluss des Stücks ("die letzten 16 Minuten", sagt einer der neun Mitwirkenden) verwandelt sich die Bühne von Elisabeth Weiß in ein hochherrschaftliches Interieur (angeblich in der Dresdner Nobelgegend des Weißen Hirschs); das wäre dann das neue Zuhause der Ex-(Familien-)Kids, Jahrzehnte später freilich, und Andy Besuchs Kostüme zeigen schönsten Biedermeier, und das sollte/ soll wohl heißen: glückliche Familie oder so.

* *

Mehr als freundlicher Applaus.

Und Rainald Goetz freute sich wie ein kleiner Junge, das sah schön aus.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 23.09.2023.]

BARACKE (Deutsches Theater Berlin, 22.09.2023)
von Rainald Goetz

Regie: Claudia Bossard
Bühne: Elisabeth Weiß
Kostüme: Andy Besuch
Sound und Video: Annalena Fröhlich
Dramaturgie: Daniel Richter
Mit: Mareike Beykirch (als Bea), Lisa Birke Balzer, Frieder Langenberger, Janek Maudrich (als Uwe), Jeremy Mockridge (als Ramin), Evamaria Salcher, Andri Schenardi, Natali Seelig und Jurek Lane Mio Südhoff
UA war am 22. September 2023.
Weitere Termine: 23., 26.09./ 01., 08., 13., 19.10.2023

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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