DAS FRÜHLINGSOPFER von Pina Bausch - mit dem Staatsballett Berlin

Premierenkritik Kult auf Torf

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Ich hatte noch das große Glück, Pina Bauschs legendäres Doppel Café Müller & Das Frühlingsopfer bei einem damaligen Gastspiel ihrer Wuppertaler Truppe in meiner Geburtsstadt Gera live erlebt zu haben - und dass ich sie überdies noch als Solistin sah (in Café Müller tanzte sie höchstselbst); so'n Doppelglück auf einmal muss man wahrlich erst mal haben. Das ist freilich schon Jahrzehnte her.

Das anno 1973 von ihr gegründete Tanztheater Wuppertal Pina Bausch pflegte und pflegt auch nach dem Tod seiner Ikone deren legendäre Stücke, die zum unvergessbaren Kultur- und Nationalgut einer wie auch immer zu verstehenden bundesrepublikanischen Ballett- und Tanzszene geworden sind - und eines jener Kultstücke ist halt Das Frühlingsopfer, welches aufzuführen sich das Staatsballett Berlin (in Kooperation mit der Pina Bausch Foundation) - im Rahmen seines zweiteiligen STRAWINSKY-Projekts - jetzt vorgenommen hatte:

Der Kult auf Torf (Bühne: Rolf Borzik) eroberte jetzt also auch die Bretter der Staatsoper Unter den Linden, wo das Staatsballett Berlin (neben den Spielstätten der DOB und KOB) seine regulären Auftritte absolviert; im Orchestergraben sitzt die Staatskapelle Berlin (Dirigent: Giuseppe Mentuccia), was dem singulären Tanz- auch zusätzlich ein kongeniales Klangereignis beschert, musiziert wird Strawinskys Le sacre du printemps - aber wem sag' ich das.

Nie wieder danach sollte und soll es einer Choreografin oder einem Choreografen gelingen, das animalisch Archaische, das dieser kultischen Zusammenrottung von wie unter Drogen sich gebärdenden Frauen und Männern (es beginnt im Übrigen mit einer Frauengruppe, die Männer geraten erst viel später hinzu) innewohnt, in Bilder und Bewegungen zu setzen wie dereinst der Bausch. Es wirkt elektrisierend, und es ist bei all dem sexwilligen Chaos, was sich nach und nach den Zuschauenden bietet, dennoch eine zwar hierarchisch anmutende aber umso grundlegendere Ver-Ordnung zu erkennen: Die orgiastischen Begattungen scheinen mehr einvernehmlich, nichts sieht nach Brutalität oder Gewalttätigkeit aus. Aber wie ist das nun mit jenem Frühlingsopfer (der lt. Stück kultisch zu Opfernden)? Es wird halt bis zum Schluss des Stücks gemeinschaftlich gesucht... Keine der Frauen, die die kollektive Auserkorenheit dieser Zuopfernden befürchten, will sich freiwillig in diese Rolle zwingen lassen - bis es eine letztlich doch dann macht und sich das rote Kleidchen überzieht (Clotilde Tran!) und tanzt und tanzt und tanzt bis sie am Ende leblos (oder doch nur ohnmächtig?) im Torf zusammenbricht.

Es stockte einem der Atem, diesen Schluss zu sehen.

Der Jubel danach wollte und wollte nicht mehr aufhören.

Eingebetteter Medieninhalt

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Vor der Pause gab es noch die Petruschka-Burleske in der Choreografie von Marco Goecke (dem Ex-Direktor des Staatsballetts Hannover, dem im Februar d.J. sein Posten wegen dessen Hundekot-Attacke gegen seine Lieblingskritikerin Wiebke Hüster aufgekündigt worden war; dieser Skandal beherrschte tagelang die Feuilletons landauf-landab).

Die Inszenierung hatte schon vor sieben Jahren in Zürich Premiere, und Nicole Mohlmann studierte sie nunmehr mit Tänzerinnen und Tänzern des Staatsballetts Berlin ein; in der Titelrolle war Alexandre Cagnat zu erleben, den Scharlatan tanzte Federico Spallitta, den Rivalen (eigentlich den "Mohren") David Soares und die Ballerina Alizée Sicre.

Bis heute machen Choreografen einen Riesenbogen um das rassistische Grundproblem des Stücks, nämlich: der eifersüchtige "Mohr" (heutzutage meistens als so genannter Rivale umfunktioniert) tötet Petruschka, weil er meint, dass er ihm die Ballerina, in die er selbst vernarrt ist, weggenommen hat o.s.ä.; eine Art Othello des Tanzes also.

Goecke seinerseits verlierte und verliert sich in feingliedrigste Detailversessenheiten; Arme, Hände, Finger und Gesichtsmuskeln, alles sieht marionettig aus. Das machte er perfekt und konsequent.

Hätte es allerdings nicht die superbe Einführung in dem Programmheft-Beitrag von Lucy Van Cleef gegeben, hätte ich schlicht nicht gewusst, was Goecke mir da eigentlich mit seiner Sicht der Dinge in Petruschka sagen wollte.

Alles in allem freilich:

Toll getanzt.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 11.06.2023.]

STRAWINSKY (Staatsoper Unter den Linden, 10.06.2023)
Igor-Strawinsky-Ballettabend

Musikalische Leitung: Giuseppe Mentuccia
Staatskapelle Berlin

Petruschka
Choreographie: Marco Goecke
Bühne und Kostüme: Michaela Springer
Licht: Udo Haberland
Dramaturgie: Michael Küster
Einstudierung: Nicole Kohlmann
Besetzung:
Petruschka ... Alexandre Cagnat
Scharlatan ... Federico Spallitta
Rivale ... David Soares
Ballerina ... Alizée Sicre
Tänzer:innen des Staatsballetts Berlin

Das Frühlingsopfer
Inszenierung und Choreographie: Pina Bausch
Bühne und Kostüm: Rolf Borzik
Mitarbeit: Hans Pop
Einstudierung: Scott Jennings, Thusnelda Mercy, Jorge Puerta Armenta, Azusa Seyama-Prioville, Kenji Takagi, Anna Wehsarg und Tsai-Chin Yu
Tänzer:innen des Staatsballetts Berlin

Premiere beim Staatsballett Berlin: 10. Juni 2023
Weitere Termine (in Berlin): 14., 16., 21., 24.06.2023
Eine Koproduktion des Staatsballetts Berlin und der Pina Bausch Foundation

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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