DORNRÖSCHEN von Marcia Haydée mit dem Staatsballett Berlin

Premierenkritik Traditionspflege in schönster (kitschigster) Vollendung

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Dieser Premierenabend fühlte sich in seiner merkwürdigen Wunderhaftigkeit als ein nicht enden wollender Tagtraum an.

Und nicht allein weil Polina Semionova - sie tanzte das Dornröschen - nach geraumer Zeit zum Staatsballett Berlin zurückkehrte; sie wird diese Partie vorerst zwar nur noch zweimal (am 10. und am 24. Juni) hier verkörpern, aber immerhin... Die im Alter von 17 Jahren von Vladimir Malakhov, dem späteren Gründungsintendanten der größten Ballett-Company Deutschlands, als Erste Solotänzerin an die Lindenoper Verpflichtete hat mittlerweile eine steile Karriere hingelegt: New York, St. Petersburg, München, Dresden, London, Tokio, Helsinki, Wien, Zürich, Stuttgart usw. usf.; die Liste ihrer sie vergötternden Fans scheint unüberschaubar zu sein.

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Hätte ich einen jubelmessenden Geigerzähler mit dabei gehabt, so hätte der dann allerdings bei ihm hier am deutlichsten knacken müssen: dem Moldawier Dinu Tamazlacaru!!! Er tanzte Carabosse, die böse Fee (er wird zudem am 3. und am 6. Juni auch Prinz Desiré in der noch anstehenden Aufführungsserie verkörpern; aber das nur nebenbei bemerkt), und wegen ihm und seiner tiefrotschwarzen oder tiefschwarzroten "Negativfigur" hatte, so wie sich nachgerade denken ließ, die brasilianische Tänzerinnen-Legende Marcia Haydée (85) Dornröschen- ihr inzwischen neuntes übrigens, nachdem sie es bereits seit 1987 sowohl in Stuttgart wie in Ankara, Santiago de Chile, Antwerpen, Perth, Stockholm, Seoul und Prag (ab nächstem Jahr wohl auch in Montréal) choreografierte - in Berlin verwirklicht resp. verwirklichen lassen: Pablo Aharonian hatte es einstudiert, Jordi Roig kreierte die Gesamtausstattung und Jacopo Pantani kümmerte sich ums Licht.

Das von Dramaturgin Annegret Gertz superb zusammengestellte Programmheft gibt mannigfaltige Auskunft zu einem sich über Jahre und Jahrzehnte erstreckenden Dauerzusammenhang zwischen Haydée und Dornröschen; auch darüber, dass sich seine Protagonistin weniger als Choreografin statt (noch immer) mehr als Tänzerin begreift:

"Ich war und bin immer eine Tänzerin. Ich sage nicht 'Ballerina', denn der Begriff 'Ballerina' bezeichnet eine Position. Ich habe diese Position auch bekommen, aber das ist nicht das Wichtige. Ich bin als Tänzerin geboren, und ich werde als Tänzerin sterben. Auch als ich Ballettdirektorin [in Stuttgart, AS] war, fühlte ich mich als eine Tänzerin, die die Kapazität hat, andere Tänzerinnen und Tänzer zu dirigieren. Sie glauben mir. Weil ich denke und handle wie eine Tänzerin, weil ich erklären kann, warum ich eine Richtung einschlagen will, und sie folgen mir und machen es so, wie ich sage. Sie akzeptieren meine Entscheidung, und ich muss gar nicht erst Befehle erteilen. Was mich leitet, ist der Respekt vor der Tradition. Die Tradition ist sehr wichtig bei allem was wir heute machen. Wenn sie uns abhandenkommt in ihrer allerbesten Weise - so habe ich sie kennengelernt, und so lebe ich sie - dann haben wir gar nichts mehr." (Marcia Haydée im Programmheft-Interview mit Annegret Gertz und Michael Hoh)

Das [s.o.] dürfte als unwegwischbarer Grundanspruch für den zukünftigen Intendanten Christian Spuck gemahnen - nicht dass die Berliner Vorzeigetruppe erneut in ein so schwindelerregendes Chaos gerät wie in der zwielichtigen "Umbruchszeit" von Waltz & Öhman

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So derart "traditionell", wie es sich in den weit über drei Stunden des Dornröschens anschaute, sollten womöglich neuere und dennoch einer "klassischen Tradition" folgende Staatsballett-Aufführungen demnächst nicht aussehen; rein optisch war und bleibt es selbstverständlich Kitsch, um nicht zu sagen: Kitsch in kongenialester Vollendung. Ungeachtet dessen traf diese von ihren Machern absichtlich gewollte Sicht der Dinge auf einen besonders heute (und nicht nur wegen der grauenhaften Kriegszeiten um uns herum) extrem vernachlässigten Sehnsuchtsnerv - ja, auch bei mir, ich kann und will dieses Gefühl nicht wegleugnen, verfing das ziemlich zwanghaft; und von daher war und bleibt das alles furchtbar akzeptabel, was zu sehen war!

Es gab grandiose Einzel- und Gruppenauftritte, insbesondere bei den vollführten Märchen-Szenen (aus Schneewittchen, Ali Baba, dem Gestiefelten Kater, der Prinzessin Florine und ihrem blauen Vogel, Rotkäppchen) während des Hochzeitsballs - sie wirkten, rein vom Zeitmaß, überlang und zäh, und sie vermittelten doch gleichsam einen Eindruck von der imposanten Leistungsfähigkeit und tänzerischen Vielfalt, die die Companie derzeit zu bieten in der Lage ist; Respekt, Respekt!!

Ido Arad dirigierte das Orchester der Deutschen Oper Berlin, das den Dornröschen-Tschaikowsky irgendwie motiv- und lustlos heruntermusizierte; es gab jede Menge Gurken bei den Bläsern, beim Zusammenspiel der Instrumente haperte es noch und noch; kein Glanzstück, was ihm da geriet.

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Da fällt mir plötzlich ein - um Gottes Willen - , dass ich Alexandre Cognat (als Prinz Desiré) vergessen hatte zu erwähnen; nein, wie kann denn so etwas passieren, unverzeihlich, also: Sein Erscheinungsbild, sein Tanz... wie man sich halt den schönen Prinzen im Ballett so vorstellt!

Auch Elisa Carrillo Cabrera (als die Fliederfee): sphärisch entrückt, eine Verheißung.

Schaut's euch an, ihr werdet Freude haben.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 14.05.2022.]

DORNRÖSCHEN (Deutsche Oper Berlin, 13.05.2022)
Musik von Peter I. Tschaikowsky

Musikalische Leitung: Ido Arad
Choreographie: Marcia Haydée (nach Petipa)
Einstudierung: Pablo Aharonian
Bühne und Kostüme: Jordi Roig
Licht: Jacopo Pantani
Besetzung:
Prinzessin Aurora ... Polina Semionova
Prinz Desiré ... Alexandre Cagnat
Carabosse ... Dinu Tamazlacaru
Fliederfee ... Elisa Carrillo Cabrera
König ... Yevgeniy Khissamutdinov
Königin ... Martina Böckmann
Catalabutte ... Eoin Robinson
u.v.a.
Tänzerinnen und Tänzer des Staatsballetts Berlin
Schülerinnen und Schüler der Staatlichen Ballett- und Artistikschule Berlin
Damen und Herren der Statisterie der Deutschen Oper Berlin
Orchester der Deutschen Oper Berlin
Premiere war am 13. Mai 2022.
Weitere Termine: 18., 19., 28.05. / 03., 06., 10., 24., 28.06. / 01., 06.07.2022
Eine Produktion des Staatsballetts Berlin

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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