Tobias Kratzer fortentwickelte den TANNHÄUSER

Bayreuther Festspiele Film & Bühne oder Bühne & Film - und je nachdem, wem was mehr überzeugen wollte

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Der Opernregisseur Tobias Kratzer fiel mir ganz zuerst im März d.J. auf, als seine Inszenierung von Zemlinskys Zwerg ihre umjubelte Premiere an der DOB nachfeiern konnte - Katharina Wagner freilich wird von ihm weit mehr gekannt haben (als ich), ja und so tat sie ihm vor Jahren schon den neuen Tannhäuser, der diesen Sommer auf dem Grünen Hügel [nach dem "alten" von Sebastian Baumgarten und Joep van Lieshout] überfällig war, vertrauensvoller Weise überantworten. Und Bayreuths neuester Novize - wohl auch nach den einhellig begeisterten und also ziemlich ausgeflippten Reaktionen der Gemeinde kurzzuschließen - tat mitnichten hier enttäuschen.

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Das Spezielle seiner Handschrift (so vermute ich) sind installierte Sub-Geschichten, die er dann - so ähnlich wie in dem von mir bestaunten Zwerg, wo er die seiner Zeit in allen Klatschgazetten ausgewalzte unglückliche "Liebesstory" des Zemlinsky mit der Mahler-Werfel als Entrée zur nachfolgenden Kurzoper verschauspielerte - mit der eigentlichen Oper/Opernhandlung (Video: Manuel Braun/ Live-Kamera: David Kasperowski und Marvin Hammer) koaliert. Bei seinem Tannhäuser läuft das dann so ab:

Der womöglich in einer aktuellen Schaffenskrise steckende Künstler Tannhäuser schließt sich seiner dringend aufzufrischenden Inputs wegen einer liederlichen Kleinkunsttruppe um die Frontfrau Venus (Elena Zhidkova), den blechtrommelnden Matzerath-Oskar (Manni Laudenbach) & den original-echten Dragqueen-Star Le Gateau Chocolat an, die mit einem Citroën-Transporter draußen 'rumtingelt oder auch bloß Plakate klebt FREI nach dem Motto Wollen/Tun/Genießen (aber FREI); und während einer ihrer Touren fährt die Wellblechkarre einen Polizisten, der sie kontrollieren wollte, regelrecht zu Brei; Venus saß übrigens am Steuer - dies der Stachel und der Anlass, dass sich Tannhäuser der Es-Clown schließlich (oder nur vorübergehend?) aus den Fängen der besagten Anarchisten-Clique löst - - die stellt ihm aber weiter nach, will ihn zu sich zurück; ja und so dringt sie illegal, während der Sängerkrieg in live abläuft, über 'ne Leiter in das Festspielhaus, der Inspizient verständigt umgehend die Festspielleiterin, die ihrerseits die 110 anruft, worauf ein Polizeikommando anrückt und die Schlussszene des Zweiten Aufzugs (simultaner Gleichschritt/Übergang vom Schwarz-Weiß-Video zum Color-Live) sozusagen torpediert - - - im Dritten Aufzug vergewaltigt Wolfram mit dem Es-Clown-Fummel des noch immer abwesenden Tannhäuser die zwischenzeitlich völlig außerhalb von sich seiende "heilige Elisabeth", die ihresteils dann (Zeitsprung) an den Folgen ihrer Fehl- und Missgeburt verblutet und verendet. Harter Tobak! Aber: Funktionierte, irgendwie.

Und eigentlich - so "neu" ist alles das dann nicht; Frank Castorf (der Erfinder der Live-Videofizierung des Theaters) demonstrierte seine jahre- und jahrzehntelangen Volksbühnen-Erfahrungen an seiner Ring-Sicht der vergangenen fünf Jahre; und da waren auch schon Autos auf der Bühne - - mit dem Unterschied zu jetzt (zu Kratzers Tannhäuser), dass Castorf vor fünf Jahren noch erbarmungslosen Anfeindungen der Gemeinde ausgesetzt gewesen war, während sie sich jetzt an den neuen und inzwischen Modestatus angenomm'nen Trend so nach und nach gewöhnt zu haben schien...

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Debütant Valery Gergiev war für die musikalische Leitung zuständig! Und man nahm ihm ab, dass er in puncto Wagner allumfassendes Bescheidwissen auf Lager hat - das Festspielorchester und der Festspielchor parierten professionell und anstandsvoll dem mehr oder weniger launig auf und ab bewegten Dirigentenstab.

Stephen Gould sang und spielte die Titelrolle!! Und ich hatte ihn nie besser erlebt als hier und jetzt - sein mit Abstand bester Rolleneindruck der vergangenen Jahrzehnte.

Die Entdeckung des Abends: Lise Davidsen (als Elisabeth) - mit rosalachsfrischem und ungestümem Impetus sowie einem mit gletscherwasserblauer Klarheit und gelegentlicher Kantenschärfe sich verhaltendem Sopran.

Auch gut: der Landgraf Stephen Millings und der Wolfram Markus Eiches und der Walther Daniel Behles.

Die zwischen dem oberflächlichen Heute und dem im Wartburgstein verkonservierten Minnesangeszeitalter hin/her tendierende Ausstattung besorgte Rainer Sellmaier.

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Und am kleinen Festspielgarten-Teich gab's in der ersten Pause einen Exklusivauftritt der großen Dragqueen Le Gateau Chocolat, welche die Hallenarie der Elisabeth (mindestens zwölf Oktaven tiefer als "normal") zum Besten gab - ja und ein Großteil der pausierenden, flanierenden Gemeinde mischte sich dann, um den Teich herum, mit reichlich oberfränkischem Fußvolk und spendierte ausgelassenst Beifall. Gute Stimmung, glückliche Gesichter.

Fragt sich allerdings:

Wie ließe sich - nach diesem insgesamten Übermaß an überbordenden Ideen und Verheißungen - die mittlerweile ganz auf rostfrei getrimmte Marke der Bayreuther Festspiele groß noch steigern?

Keine Ahnung wie.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 31.07.2019.]

TANNHÄUSER (Bayreuther Festspiele, 28.07.2019)
Musikalische Leitung: Valery Gergiev
Inszenierung: Tobias Kratzer
Bühne und Kostüme: Rainer Sellmaier
Licht: Reinhard Traub
Video: Manuel Braun
Dramaturgie: Konrad Kuhn
Chor: Eberhard Friedrich
Besetzung:
Hermann, Landgraf von Thüringen ... Stephen Milling
Tannhäuser ... Stephen Gould
Wolfram von Eschenbach ... Markus Eiche
Walther von der Vogelweide ... Daniel Behle
Biterolf ... Kay Stiefermann
Heinrich der Schreiber ... Jorge Rodríguez-Norton
Reinmar von Zweter ... Wilhelm Schwinghammer
Elisabeth, Nichte des Landgrafen ... Lise Davidsen
Venus ... Elena Zhidkova
Ein junger Hirt ... Katharina Konradi
Le Gateau Chocolat ... Le Gateau Chocolat
Oskar ... Manni Laudenbach
Der Festspielchor
Das Festspielorchester
Premiere war am 25. Juli 2011
Weitere Vorstellungen: 13., 17., 21., 25.08.2019

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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