VÖGEL von Wajdi Mouawad

Neue Stücke Stefan Bachmann (Inszenierung) eröffnete die neue Spielzeit am Schauspiel Köln

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Der kanadisch-libanesische Autor Wajdi Mouawad (50) - einer der derzeit größten und besten Geschichtenerzähler weltweit - hat mit seinen Vögeln ein Stück geschrieben, dass es sowohl auf Französisch als auch viersprachig gibt. Die deutsche Erstaufführung (am Staatstheater Stuttgart) im vergangenen Jahr tat sich für die viersprachige Version entscheiden; diese wählte nun auch Stefan Bachmann zur Eröffnung seiner neuen Spiel-Saison am Schauspiel Köln.

Eingebetteter Medieninhalt

"Im Lesesaal einer Universitätsbibliothek an der amerikanischen Ostküste treffen Wahida und Eitan aufeinander. Der junge Biogenetiker mit jüdischen Wurzeln verliebt sich Hals über Kopf in die arabischstämmige Doktorandin aus New York. Für Eitans religiös-fanatischen Vater ist die Beziehung inakzeptabel. Doch Eitan kämpft gegen das schwere Erbe seiner Vorfahr*innen an: 'Unseren Genen ist unser Dasein egal. Die Traumata deines Vaters stehen in deinen Chromosomen nicht geschrieben.' Auf einer Forschungsreise wird Eitan bei einem Bombenanschlag an der israelisch-jordanischen Grenzeschwer verletzt.Während er im Krankenhaus liegt, spürt Wahida seine Großmutter auf. So kommen drei Generationen aus drei Kontinenten an Eitans Krankenbett zusammen, dem gut behüteten Geheimnis der Großeltern droht die Entlarvung." (Quelle: schauspiel.koeln)

*

Es fängt englisch-flüsternd an (Nikolay Sidorenko als Eitan imponiert mit seinem unverhohlenen Liebesgeschwätz, über drei Bibliotheks-Leseplätze hinweg, "seine" seit vermeintlichen Ewigkeiten Angebetete Lola Klamroth als Wahida; beide sind sie wissbegierig-forschend in den USA vor Ort, zunächst) - ja und da dachte ich mir schon, 'o Gott, wenn das die ganze Zeit jetzt so mit diesem englischen Gequatsche laufen sollte'; aber nein, ich löste mich recht rasch von dem entnervenden Gedanken, spätestens ab da:

Als die (per Szenen-/Ortswechsel) in Israel v.a. forschungsreisemäßig weilende Wahida von Lena Kalisch als Soldatin Eden aufgegriffen und nicht unschikanös verhört und gedemütigt wird, endet der Auftritt durch einen ohrenbetäubenden und lichtblendenden Riesenknall als theatralischer Beglaubigung des eigentlich dann stückauslösenden Bombenattentats [s.o.].

Langer Rede kurzer Sinn:

Der Oberkracher all der nach und nach dann aufgedröselten Geschichte(n) ist wohl der, dass Bruno Cathomas als Eitans religiös-fanatisch, deutsch-jüdischer Vater David seiner Zeit von Martin Reinke als Eitans deutsch-jüdischem Großvater Etgar - konkret als dieser bei einer militärischen Aktion der israelischen Armee in einem palästinensischen Flüchtlingsager auf libanesischem Boden (gemeint ist das Massaker von Sabra und Schatilain am 16. und 18. September 1982) das überlebt habende Findelkind in einem Schuhkarton aufgefunden und mitgenommen hatte - schicksalhafter Weise, in realo also, ein Araber und kein Jude wäre; was für den "Betroffenen" in der Privatrealisierung schlicht unmöglich ist und er dann diesbezüglich einen veritabelen Gehirnschlag kriegt, der ihn (Traum-Schlussszene) als freiesten unter den freien Vögeln ins Elysium erhebt...

Geredet, durchgespielt wird also vordergründig der unauflösbare israelisch-palästinensische Dauer- und-Grund-Konflikt, der selbstverständlich immer wieder auch in dem Privaten, im "Vereinzelten", im menschheitlich Erfahrenen an sich seine Bespiegelung erfährt.

Ein tolles Stück, auch toll gesprochen (überwiegend auf Hebräisch!!!!!).

* *

Schluchzen, Weinen, Mitgefühl - mehr kann Theater wahrlich nicht an Besserem für seine Zuschauenden/Zuhörenden leisten.

Standing ovations.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 25.09.2019.]

VÖGEL (Depot 1, 22.09.2019)
von Wajdi Mouawad

Regie: Stefan Bachmann
Bühne und Kostüme: Jana Findeklee und Joki Tewes
Komposition und musikalische Einrichtung: Gajek
Licht: Michael Gööck
Dramaturgie: Lea Goebel
Sprachunterricht Hebräisch: Avraham Applestein und Alexander Schneider
Sprachunterricht Arabisch: Hans Peter Speicher
Sprachunterricht Englisch: Sabina Perry
Besetzung:
Wahida ... Lola Klamroth
Eitan ... Nikolay Sidorenko
David ... Bruno Cathomas
Norah ... Melanie Kretschmann
Etgar ... Martin Reinke
Leah ... Margot Gödrös
Wazzan, Rabbiner, Arzt und Kellner ... Kais Setti
Eden und Krankenschwester ... Lena Kalisch
Uraufführung am La Colline Paris: 17. November 2017
DEA am Staatstheater Stuttgart: 16.11.2018
Premiere am Schauspiel Köln: 20.09.2019
Weitere Termine: 25.09. / 06., 11., 15., 19., 20., 26., 31.10.2019

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

Andre Sokolowski

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden