Dem Trauermarsch voran tragen sie die Kinder, die bei einem Bombenangriff getötet worden sind. Die Einwohner der Stadt Balkh im Norden Afghanistans haben die Toten in weiße Tücher gewickelt. Das geschieht im November 2019, übertragen hat die Bilder der russische Fernsehkanal Ruptly. Im Garmsir-Distrikt in der Provinz Helmand betrauert man um die gleiche Zeit nach einem US-Angriff 30 Mitglieder einer Großfamilie. Drei Monate zuvor, im August 2019, sterben in Kabul durch einen terroristischen Angriff 63 Menschen während einer Hochzeitsfeier. In der Provinz Herat werden im Januar 60 Menschen bei einem Drohnenangriff getötet oder verwundet, der dem Befehlshaber einer lokalen Splittergruppe der Taliban gilt. Mitte Januar stellen die Bewohner von Dasht-e-Archi ein Video ins Netz mit den Leichen von zwei Männern, zwei Frauen und einem Kind, die bei einem Bombenangriff des afghanischen Militärs ums Leben gekommen sind.
Anfang Februar schließlich fallen 16 Menschen einem US-Angriff in der Nähe von Herat, im Westen Afghanistans, zum Opfer. Unter diesen Toten ist kein Kombattant, kein Taliban, kein Mitglied anderer Gruppierungen – es handelt sich ausschließlich um Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sind.
Trump twittert von Erfolgen
2019 war für Afghanistan ein weiteres Jahr der Grauens. Durch den Krieg, wie ihn die US-Amerikaner und die afghanische Nationalarmee gegen die Taliban sowie Al-Qaida- und IS-Ableger führen, gab es allein zwischen Juli und September 1.174 zivile Opfer, wie das der Quartalsbericht der UN-Mission für Afghanistan (UNAMA) dokumentiert. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 2.563 Nicht-Kombattanten getötet und 5.676 verwundet (siehe Grafik).
Zahlen in dieser Größenordnung können nicht weiter erstaunen für ein Land, in dem seit Kriegsbeginn Anfang Oktober 2001 weit mehr als 100.000 Menschen umgekommen sind: Zivilisten, einheimische Militärs wie Soldaten der ISAF-Mission (bis 2013) aus 50 Staaten, dazu Milizionäre und Guerillakämpfer. Das Leiden und Sterben in Afghanistan war und ist furchtbar. Die für 2019 vorliegende UNAMA-Bilanz würde wohl nur mit einem Schulterzucken quittiert, hätte dieses Jahr nicht mit großen Friedenshoffnungen begonnen. In Doha, der Hauptstadt von Katar, trafen sich mehrfach Gesandte der Taliban mit US-Diplomaten und afghanischen Politikern, um einen Friedensvertrag auszuhandeln. Lange Zeit schien es so, als würde man erfolgreich sein.

Grafik: der Freitag
Hintergrund war die Absicht von Präsident Trump, mehr als 5.000 der 14.000 in Afghanistan stationierten US-Militärs abzuziehen und dafür einen Zeitplan auszuhandeln. Die Taliban sollten garantieren, dass sich in einem absehbaren Machtvakuum nicht erneut Formationen von Al-Qaida oder des Islamischen Staates (IS) ausbreiten. Ausgerechnet denen, die von der US-Armee seit fast zwei Jahrzehnten bekämpft wurden, sollte es übertragen sein, islamistischen Terror einzuhegen. Während in Katar am Verhandlungstisch in gekühlten und mit prachtvollem Marmor ausgestatteten Räumen über Frieden und Feuerpausen gesprochen wurde, eskalierte in Afghanistan die Gewalt mehr als je zuvor. Laut eigenen Berichten warfen die US-Streitkräfte vom 1. Januar bis zum 1. Oktober 2019 etwa 7.400 Bomben ab. Parallel dazu verstärkte auch die afghanische Nationalarmee ihre Operationen. Es gab Nächte, in denen sie Dörfer besetzte, zu Hausdurchsuchungen und Razzien ausholte, bei denen mutmaßlich mehr als 80 Taliban-Kämpfer getötet wurden.
Dennoch erwies sich das, was Donald Trump unablässig über Erfolge bei der Eindämmung der Taliban twitterte, als übertriebene Selbstdarstellung. Als der mit dem Weißen Haus eng verbundene Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) seinen Bericht für 2019 vorlegte, hieß es darin, die Taliban und „andere aufständische Gruppierungen“ hätten so viele Anschläge verübt wie zuletzt im Jahr 2009. Auch wenn es fraglich ist, wie genau ein derartiges Fazit die Wirklichkeit abbildet, bestand doch kein Zweifel an der Intensität von Kampfhandlungen, unter denen notgedrungen die Zivilbevölkerung zu leiden hatte. Das galt vorrangig für die ländlichen Regionen, in denen die Gotteskrieger und ihre Verbündeten nach wie vor Rückzugsgebiete haben. Dort werden sie mit Drohnen gejagt und bekämpft, die angeblich zielgenau treffen, was angesichts der durch diese Waffen getöteten Zivilisten offensichtlich eine Legende ist.
Rückkehr nach Doha
Im Jahresbericht 2019 der Menschenrechtsorganisation Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) ist vermerkt, dass 71 Prozent der getöteten Frauen und Kinder auf das Konto der Taliban, 29 Prozent auf das der anderen Konfliktparteien gingen, darunter die US-Armee. Dazu passt, dass Donald Trump im März 2019 eine Anordnung seines Vorgängers Barack Obama kassierte, wonach die US-Geheimdienste jedes Jahr die Zahl der getöteten Kombattanten und Zivilisten in Kriegsgebieten veröffentlichen müssen, in denen US-Militärs an Operationen beteiligt sind. Fast zeitgleich entschied der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag, dass er keine Untersuchungen zu in Afghanistan begangenen Kriegsverbrechen aufnehmen werde. Beeinflusst oder beeindruckt durch das Statement der US-Regierung, sie werde es niemals hinnehmen, sollte gegen US-Soldaten ermittelt werden?
Immerhin hätten sich die Haager Ankläger durch die Erkenntnisse von Amnesty International (AI) bestärkt fühlen können. Das Gewaltpotenzial des Krieges schwäche sich nicht im Geringsten ab, hatte die Organisation in ihren Jahresberichten zuletzt unablässig wiederholt. Bereits 2014 hatte AI den Vereinigten Staaten vorgeworfen, den Tod Tausender Zivilisten, der den US-Streitkräften angelastet werde, nicht angemessen zu untersuchen. Amnesty beklagte eine „Kultur der Sprachlosigkeit“. Es habe nicht eine einzige Anklage gegeben, obwohl es Hunderte von Aussagen über eine völkerrechtswidrige Kriegsführung gebe. Die Opfer hätten keine Chance auf Sühne und Gerechtigkeit. Und so werde es vermutlich bleiben.
Fest steht, wenn die Taliban in die Städte einsickern, dann hauptsächlich in das annähernd fünf Millionen Einwohner zählende Kabul. Das Leben in der von Mauern, Schlagbäumen und Stacheldrahtverhauen durchzogenen Stadt ist für die Menschen ein stetes „Auge-in-Auge“ mit dem Tod. Als am 18. August 2019 durch einen Selbstmordanschlag auf eine Hochzeitsgesellschaft 63 Menschen starben, standen die Verhandlungen in Doha offiziell kurz vor einem Abschluss. Das Attentat warf sofort die Frage nach den Urhebern und dem Ziel einer solchen, die Friedensgespräche buchstäblich sprengenden Tat auf. Es gab Vermutungen, der pakistanische Geheimdienst habe seine Hand im Spiel und bediene sich terroristischer Gruppen, um einen Friedensschluss zu torpedieren. Was zunächst auch gelang, denn wegen des Anschlags in Kabul, bei dem auch ein US-Soldat ums Leben kam, stornierte Donald Trump am 8. September sämtliche Gespräche mit den Taliban, die man ursprünglich bei einem bis dahin geheim gehaltenen Treffen in Camp David abschließen wollte.
Seither kam es in den 34 Provinzen des Landes fast wöchentlich zu Selbstmordanschlägen. Es entstand eine derart verfahrene Situation, dass Ende November die Verhandlungen in Doha wieder aufgenommen wurden. Allerdings war von einem dauerhaften und landesweiten Waffenstillstand vorerst nicht mehr die Rede. Im Januar boten die Taliban lediglich eine „Reduzierung der Gewalt“ an. Inzwischen erscheint eine Waffenruhe von bis zu zehn Tagen denkbar, um dadurch den Weg für ein Friedensabkommen zu ebnen. Donald Trump dürfte das im Jahr der Präsidentenwahl willkommen sein. In Wirklichkeit jedoch birgt ein Agreement mit den Taliban das Eingeständnis einer gescheiterten westlichen Interventionspolitik, die vor fast zwei Jahrzehnten begann.
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