Zeit für Gesichtspflege

Kriege und Konflikte Ein demokratischer, respektvoller Diskurs über das, was die Welt derzeit bewegt, scheint immer schwieriger - er droht hinter Fassaden von Selbstgewissheiten und Besserwisserei begraben zu werden.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die Meinungsberge werden immer größer. Und mit wachsender Höhe wird die Luft dünner. Wer sich da von Basislager zu Basislager quält, braucht gute Ausrüstung. Und muss schwindelfrei sein. Egal, wohin der Blick fällt: Auf den Russland-Ukraine-Krieg, den Nahost-Konflikt, die Antisemitismus-Debatte in Deutschland. Das Licht beim Aufstieg wird immer greller, Verblendungen ziehen Risse in die Haut. Da erscheint die Zeit reif für ein bisschen Gesichtspflege. Für ein Überdenken, ob alles, was einem da auf schmalen und darob heiklen Pfaden begegnet, hieb- und stichfest ist. Ob das intellektuelle Schuhwerk taugt, man umkehren, andere Routen wählen muss. Ob die GPS-Signale, die unentwegt ausgesendet werden, verlässlich sind.

Was mir zunehmend bewusst geworden ist: Dass wir mehr denn je zum Spielball ideologischen Kalküls zu werden drohen. Und dass wir über die Probleme, die unsere Gesellschaften beschäftigen, stärker denn je Gefahr laufen, durch mehr oder weniger simple politische Konstrukte schnell in Ecken gestellt zu werden, die allem notwendigen demokratischen Diskurs zuwiderlaufen. Ich rede hier nicht einer Freiheit das Wort, die keine Grenzen kennt. Menschlichkeit, abstrakt und konkret, ist nicht verhandelbar. Weltoffene Toleranz nicht. Insofern ist jede Form rechter Gesinnung für mich unerträglich, untragbar. Steht außerhalb meines Kanons.

Was sich aber diesseits dieser persönlich für mich festgezurrten Schwelle tut, ist aus meiner Sicht eine Eingrenzung des Denkens, die auf ihre eigene Weise Vieles an Werten untergräbt, die sich unsere Gesellschaften nach ihren Erfahrungen mit dem, was totalitäre Herrschaft angerichtet hat, teils mühsam geschaffen haben. Dabei wird mit Unterstellungen und Böswilligkeiten operiert, es wird ausgegrenzt und verboten. Wer nicht unzweifelhaft auf das kleinste gemeinsame Vielfache, das sich als breiter Mainstream ausgibt, einschwenkt, wird schneller stigmatisiert, als sich Argumente untereinander austauschen und eingehend analysieren lassen.

Der Russland-Ukraine-Krieg kann nicht mehr in Frage gestellt werden, ohne dass man auf der Seite der Putin-Freunde landet. Die Politik der israelischen Regierung nicht, ohne dass man man als Anhänger israelbezogenen Antisemitismus‘ entlarvt wird. Wer sagt, dass auch Netanyahu mit dem Feuer spielt, in Gaza und Damaskus, verwehrt Israel Wehrhaftigkeit und Existenz. Da kann man noch sooft betonen, dass man Putin für einen üblen Diktator hält, wer Selenskyi nicht huldigt, will die Ukraine den Russen opfern. Da kann man noch so sehr den Terror der Hamas und das Mullah-Regime im Iran geißeln, wer Israel kritisiert, hasst Jüdinnen und Juden.

Dass in der Ukraine selbst Selenskyis Strategie von Sieg oder Niederlage zunehmend in Kritik gerät, wird einfach ausgeblendet. Dass in Israel selbst massenweise Kritik an der dortigen Regierung geübt wird, und nicht nur wegen Netanyahus möglicherweise krimineller Verflechtungen, sondern auch wegen der Politik des Staates gegenüber Palästinenserinnen und Palästinensern, wird fern aller Abwägung ignoriert. Die so genannte Staatsräson in Deutschland steht gegebenenfalls über der Souveränität der Menschen, die sie betrifft. Vermeintliche Solidarität entpuppt sich nicht selten als ignorante Besserwisserei und massive Selbstüberschätzung.

Frau Strack-Zimmermann ist natürlich klüger als die vielen Mütter und Frauen, die in der Ukraine um tote Söhne und Männer weinen oder sich um deren Schicksal sorgen, weil sie befürchten, dass ihre Männer nicht mehr lebend von der Front zurückkehren. Volker Beck ist natürlich viel schlauer, als die Israelis, die zuhause – unabhängig von Parolen der einen oder anderen Seite – für eine Aussöhnung eintreten; gerade vor dem Hintergrund jüdisch-palästinensischer Geschichte. Sie sind die besseren Ukrainer und die wahren Kämpfer gegen Antisemitismus. Die Überheblichkeit verschwindet hinter Fassaden der Selbstgewissheit.

Das wäre nicht mal schlimm, würden sich im Schlepptau der Arroganz nicht ganze Heerscharen von Kulturschaffenden, Institutionen, Behörden usw versammeln. Fast vergessen sind die Ressentiments, die zu Beginn des verbrecherischen Angriffs Russlands gegen die Ukraine gegen russische Künstler in Stellung gebracht wurden; weil sie kein offizielles Bekenntnis gegen Präsident Putin ablegten. Als sei die Tatsache, dass sie aus dem Land des Diktators kommen, ohne Weiteres ein Beleg der Fürsprache für das Kreml-Regime. Manche mussten zunächst Luft holen, dachten an ihre Familien und an Drangsalierungen durch Putins Schergen.

War es da verwerflich, nicht gleich die ukrainische Flagge zu schwenken? Wie es Zigtausende in Deutschland taten, die mit dem Krieg, den Russland gegen die Ukraine angezettelt hatte, nicht einmal mittelbar etwas zu tun hatten. Das Gleiche gilt für den oder mittlerweile die Konflikte im Nahen Osten, die durch den iranischen Angriff auf Israel eine neue Eskalation erfahren. Auch hier bringen sich Politiker und ja durchaus ehrenwerte Kämpfer gegen Antisemitimus gern in Rage, ohne auch nur einen Deut Zweifel daran zu haben, dass sie Menschen diskreditieren, die, wie sie, durchaus auf der Seite Israels stehen, wenn auch nicht blindlings.

Aber jedes Schräubchen, das sich nicht haarscharf dreht, wie das eigene, wird als verwerflich im Gewinde überheblicher, weil einzig richtiger und unumstößlicher Betrachtungen der Lage und notwendiger Konsequenzen verurteilt. Welche Ansichten und Beurteilungen des oder der Konflikte dort liegen, wo Bevölkerungen direkt betroffen sind und erleben, wie Politik spielt, auch mit dem Leben der ihr anvertrauten Kinder, Frauen und Männer, kümmert in Deutschland oft wenig. Nachdenken über die Vielseitigkeit und Komplexität von Konflikten (und ihrer Lösung) steht inzwischen auf dem Index, Wahrheiten bleiben auf der Strecke.

Oder werden, in Absicht, sich selbst und seine Geisteshaltung für unwiderstehlich zu halten, aufs Abstellgleis geschoben. Das Traurige ist, dass damit Solidaritäten beschädigt werden, dass Keile in Haltungen getrieben werden, die, würde man in ihnen das Gemeinsame suchen, sehr viel mehr Kraft gewönnen, als sie haben. Dort, wo die Menschen täglich gegen die Verbrechen der Gegenwart aufstehen und nach friedlichen Perspektiven suchen, klingen die Stimmen, auf die man hören sollte. Die nicht unbedingt immer die gleichen Worte wählen. Aber denen gleiche Hoffnungen zugrunde liegen, die sie gegebenenfalls auch über Gräben hinweg einen.

Gesichtspflege heißt für mich mehr denn je, beide Augen und Ohren offenhalten. Mit Blick und Gehör dafür, was wirklich zu sehen und an Standpunkten wahrzunehmen ist. Gesicht zeigen, heißt für mich, sich nicht in Stellungen zu verbunkern, die das Spektrum der Gründe für Konflikte und Kriege ignorieren. Und sich nicht zu überlegen, wie man einer Eskalation Vorschub leisten, sondern wie man ihr das Tempo nehmen kann, ohne das eigene Gesicht zu verlieren. Einer Eskalation adäquat den Riegel vorzuschieben, ohne den auch eigenen Anteil daran in den Wind zu schlagen. Das ist eigentlich das Einmaleins in menschlichen Beziehungen.

Nur wird dies von der Politik, dort, wo es um Macht und die Behauptung selbst fragwürdiger Positionierungen geht, häufig nicht gesehen. Wer darauf hinweist, wird als naiv und Agent der gegnerischen Seite geoutet. Das freilich ist, da muss man nur ein wenig den Vorhang beiseite schieben, meist nicht mehr als plumpes Unterfangen. Die moralischen Vorhänge, die da vor Realitäten zugezogen werden, sind häufig grob genäht und weisen große Löcher auf. Moral entpuppt sich oftmals als Sichtschutz für Dogmen, die gegen alles, was sie in Frage stellen könnte, gesetzt werden. Man wird sich darüber unmerklich selbst zum Gegner.

Man wird, weil man in der Art und Weise, wie man dem begegnet, der die eigene Meinung nicht teilt, weil er die ein oder andere Sache nicht gleich gewichtet, dem Gegenüber immer ähnlicher. Das Unversöhnliche von Standpunkten in den Vordergrund zu rücken, nimmt die Möglichkeit gefangen, auf das Versöhnliche zu zielen. Die Extreme verbauen Wege in eine für alle akzeptable Mitte, in ein akzeptables Neben- oder Miteinander. Die Extreme aber sind es, die derzeit die Vorherrschaft haben. Fast überall. In Osteuropa, im Nahen Osten. Es geht nicht um extreme Menschlichkeit, sondern um extreme Unmenschlichkeit.

Terror und Gegenwehr, Angriff und Verteidigung, Beschuldigung und Rechtfertigung tragen zunehmend die gleichen Züge. Die Fahnen, die geschwungen werden, werden nicht selten vom gleichen Wind getrieben. Das liegt nicht an gleichen politischen Implikationen. Etwa, dass die Ukraine auch nur annähernd so gestrickt ist wie Russland, Selenskyi wie Putin. Oder dass der Terror der Hamas gleichzusetzen wäre mit dem Vorgehen Israels in Gaza, der islamistische Angriff des Iran, der Israel das Existenzrecht abspricht, nur irgendwie gleich dem Angriff Israels auf die iranische Botschaft in Damaskus. Da ist nichts einfach so vergleichbar.

Es geht vielmehr darum, dass die Dynamik, die sich da – auch aus Ungleichgewichten – entfaltet, in immer ungedämmtere Feindseligkeiten zu münden droht, die am Ende auch durch noch so diplomatische Klimmzüge nicht mehr einzufangen sind. Derartige Feindseligkeiten bauen sich auch in der Auseinandersetzung um Krisen und Kriege in Deutschland auf. Auch wenn es um die Causa des Antisemitismus geht. Da wird nicht mehr genau hingeschaut auf die Worte, die Kontexte; da wird mantraartig ein Subtext beschwört, willkürlich und bösartig. Um ja nicht vom Weg abzukommen. Manchmal treibt diffuse Angst das Kalkül an, aber nicht immer.

Billiges Kalkül, dem zunehmend der Vortritt gelassen wird und das vielfach den Ausgangspunkt von Diffamierung und Selbstherrlichkeit bildet, führt in eine Atmosphäre, die ihrerseits diffuse Ängste und billiges Kalkül befördert. Lager schaukeln sich gegenseitig hoch und verweigern sich Argumenten und respektvollem Diskurs. Zugleich auch einem achtungsvollen Umgang mit kritischen Künstlern, Wissenschaftlern, Bewegungen. Ergebnis ist ein Gefecht mit Petitionen, Ausgrenzungen und Verboten, das auf Dauer jeden notwendigen freiheitlich-demokratischen Austausch von unterschiedlichen Meinungen unterläuft.

In dieser Atmosphäre werden je nach Agenda (von Medien, Politik und anderen Interessenvertretern) Politiker, Künstler, Wissenschaftler gefeiert oder verunglimpft. Und das stets aus Positionen heraus, die alles andere als unumstritten sind, sich aber als solche gerieren. Die Dreistigkeit, mit der dies geschieht, wird immer Besorgnis erregender, weil man ihr und längst nicht mehr nur in der ungezügelten Welt von „X“(Ex-Twitter)&Co oft derart ausgeliefert ist wie mittelalterlichen Steinigungen. Wer sich zu Recht gegen jedwede islamistische Fatwa ausspricht, täte gut daran, seine eigene Form der Geißelung auf den Prüfstand zu stellen.

In diesem Sinne sollte man der Gesichtspflege durchaus sorgsam Aufmerksamkeit schenken. Das Etikettieren, das die vermeintlich Anständigen so gern vornehmen (mit immer masiveren Auswüchsen), sollte einen nicht dazu verleiten, bei der Betrachtung von Kriegen und Konflikten Dogmatikern, egal welcher Couleur, aufzusitzen. Man muss nicht kritiklos und zweifelsfrei auf der einen oder anderen Seite stehen. Der Platz zwischen den Stühlen ist nicht der bequemere, dafür aber häufig der integerere Standpunkt. Von ihm aus und aus abwägender Distanz lassen sich klarere und nachhaltigere politische und gesellschaftliche Verortungen finden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Mijic

think-tank aus hamburg & bale (Istrien)

Andreas Mijic

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden