Im politischen Dickicht

Politik und Medien Das Gestrüpp von Meinungen und Analysen ist kaum mehr zu durchdringen - worum es auch immer geht. Und es gilt, sich abseits der Vorwurf-Maschinerien jeweils bestmöglich zu sortieren

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Worum es auch immer geht – Russland, Ukraine, Israel, Palästinenser, US-Vorwahlkampf (Ausland), Rentenpolitik, Wirtschaft, Klimabewegung, RAF-Nachwehen (Inland): Nie war das politische Dickicht derart undurchdringlich. Oder andersherum: Niemals ist die Gefahr so eindrücklich zu betrachten gewesen, sich im Dschungel mit allen möglichen kleinen und großen Tieren, Hängepflanzen und Dornengetrüpp zu verfangen. Sich von dubiosen Expertenmeinungen, Widersprüchen, Kommentaren und Ähnlichem hinters Licht führen zu lassen. Jeder weiß Bescheid. Jeder sieht sich im Recht. Jeder begibt sich in Kampf- oder wahlweise Umarmungsstellung.

Wer keine gut bedachte und – trotz stets notwendiger Überprüfung – aus einer gewachsenen Balance gewonnene eigene belastbare Haltung entwickelt, droht, Opfer dieses Dschungels zu werden. Mal als Russland-Freund oder -Feind, mal in Ukraine-Solidarität oder tückischer Helden-Betrachtung, mal als unverbrüchlicher Israel-Freund oder als, selbstverständlich antisemitischer, Israel-Kritiker, mal als friedlicher Palästinenser-Fan oder geistiger Hamas-Scherge. Mal als Scholz-Versteher oder Regierungs-Basher. Gelegenheiten, die allem voran Medien bieten, aus aktuellen Anlässen schwankende Erkenntnisse zu gewinnen, gibt es allemal mehr als reichlich.

Die Säue, die derzeit durch die politischen Dörfer getrieben werden, könnten unterschiedlicher und gen-manipulierter nicht sein. Gestern noch wähnten Medien die Ukraine dem Untergang geweiht oder zumindest in einem Patt mit Russland. Heute schon weckt die Zerstörung eines russischen Kriegsschiffs durch ukrainisches Militär die Ahnung, Kiew würde bald siegen. Gestern noch hielt man den Diskurs über israelisch-palästinensische Verwerfungen hoch, erlaubte sich in der einen Kommentarspalte den Luxus differenzierter Betrachtung. Heute schon ist, wer nicht die UN in Gaza zur Terror-Organisation erniedrigt, ein serviler Diener des Dschihad.

Gestern noch hielten viele Bundeskanzler Olaf Scholz für einen zumindest bedachten Helfer der ukrainischen Sache, heute ist er jemand, der die Ukraine an Russland ausliefert. Gestern war er Mann stoischer Vernunft, heute ist er ein Feigling. Zu den Rentenplänen der Bundesregierung sind mehr Meinungen zu hören, als es Menschen gibt, die sie vertreten. Die Klimapolitik, die gestern noch ganz oben auf der Agenda medialer Betrachtung stand, ist nur noch interessant, wenn sich über Fridays for future ein Bogen zur Haltung gegenüber Jüdinnen und Juden spannen lässt. Aktuell kaum mehr relevante RAF-Nachwehen, wenn sie einen veritablen Razzien-Thriller hergeben.

Man braucht mehr denn je einen eigenen, halbwegs stabilen Kompass, um in dem politischen Irrgarten Wege zu finden. Es müssen nicht unbedingt Auswege sein. Aber solche, die einem nicht an jeder Ecke als Sackgasse erscheinen. Es darf hierbei nicht um Prinzipienreiterei gehen, aber es sollte einen funktionierenden Kompass geben, der einem nicht Süd für Nord vormacht oder Ost für West. Es mag verständlich sein, dass je nach Interessenlagen versucht wird, Einfluss zu gewinnen. Oder überzeugend zu wirken. Überzeugend aber sind ganz viele Analysen, Schlussfolgerungen, Kommentare nicht. Zumal nicht, wenn sie mit vernichtenden Vorwürfen einhergehen.

Wer Zweifel an der militärisch-ausgerichteten Strategie der Ukraine und ihrem Präsidenten hat, wer Verhandlungen statt Taurus-Lieferungen fordert, ist nicht automatisch Putin- oder Kreml-Freund. Wer schwerwiegende Kritik an Israel und seinem Vorgehen in Gaza übt, ist nicht gleich Antisemit oder Hamas-Anhänger. Wer Kämpfer gegen den Klimawandel, die die Sache der Palästinenser hochhalten, an den Pranger stellt, hilft nicht deswegen schon der Sache von Jüdinnen und Juden. Politik und Medien neigen dazu, eigene Meinungen als Wahrheit zu verkaufen. Wer hinter die Fassaden zu leuchten versucht, gilt als verwerflich. Und wird, je nach Bedarf, stigmatisiert.

Es sind, und das ist so schrecklich wie Kriege und Terror, dieser Tage mehr Hohepriester der Verlogenheiten und Verführungen unterwegs als nüchterne Betrachter der Realitäten. Wer in ihre Fänge gerät, dem werden bisweilen beide Augen und jeder Verstand ausgerissen. Umso mehr Bedeutung bekommt, sich nicht von Drohungen, Angriffen, Anfälligkeiten eines gefälligen Kulturbetriebs, eigener Ängstlichkeit und mangelndem Mut zur differenzierten Betrachtung und demokratischem Diskurs aus der Bahn werfen und allwissenden Anklägern ein leichtes Spiel zu lassen. Eine Verrohung der Sitten findet gerade auf Seiten jener statt, die alle Weisheit für sich pachten möchten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Mijic

think-tank aus hamburg & bale (Istrien)

Andreas Mijic

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