Das Nawalnyi-Vermächtnis

Stärkung der Opposition Der Tod des russischen Kreml-Kritikers hat viele Fragen aufgeworfen - unter anderem die, ob die Opposition in Russland ausreichend unterstützt wird. Davon hängt nicht unwesentlich ab, ob das System Putin politisch überleben kann

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Wie lange erlaubt die Welt Russland noch so zu handeln? Das ist eine berechtigte Frage, die der ukrainische Präsident Selenskyi eben der Welt auf der Sicherheitskonferenz in München gestellt hat. Sie fällt mit der Nachricht über den Tod des russischen Oppositionellen Alexej Nawalnyi zusammen. Der Tod, der ein Mord ist. Wie immer der Kreml es wenden mag. Das plötzliche Todessyndom, das da aus dem moskautreuen Behördenirrgarten die Runde macht, es ist nichts weiter als ein zusätzliches Kapitel im Buch der Diktatur, an dem Präsident Putin seit er im Amt ist schreibt. Jedes Opfer ist eines der russischen Nomenklatura, egal ob mittelbar oder unmittelbar.

Wie lange erlaubt die Welt Russland noch so zu handeln. Eine Frage, die sich nicht nur mit Blick auf den Überfall auf die Ukraine stellt. Sondern auch mit Blick auf die Unterdrückung und die Gewalt, die das russische Regime im Kampf gegen die Kritiker im eigenen Land anwendet. Nun ist es, ohne die Verantwortung, die die Welt an der bislang nicht abnehmbaren Machtfülle Putins hat, schmälern zu wollen, auch und immer mehr Sache der Russinnen und Russen, sich den Machthaber endlich vom Halse zu schaffen. Und zu begreifen, dass er mit seiner erbarmungslosen Politik alles erstrebenswerte Leben in dem ehemaligen Sowjetstaat auslöscht. Im Zweifel für immer.

Nawalnyi stand und steht für den Mut, der erforderlich ist, das Ende eines Irrsinns und eines Irrsinnigen herbeizuführen. Dass der Oppositionelle nun starb oder sterben musste, zeigt nicht, wie wenig gegen Putin auszurichten ist, sondern wie wenig auszurichten ist, wenn der Widerstand aus zu Wenigen besteht. Was die von Selenskyi beschworene Welt tun kann? Vor allem muss sie sehr viel deutlichere und tätigere Zeichen setzen, dass sie jede noch so kleine Bewegung gegen den Machthaber im Kreml so weit wie es nur irgend geht unterstützt. Dies umso mehr, wenn sie zögert, den Mann auf eine andere durchaus denkbare Art und Weise aus dem Weg zu räumen.

Vielleicht es es ein bisschen zu sehr John le Carré, wenn man sich Gedanken darüber macht, was die Alternative zu einem noch lange andauernden Krieg Russland-Ukraine sein könnte. Zu sehr Thriller-Romantik. Der Krieg wiederum schon zu weit fortgeschritten, um hier auf nichtmilitärische Lösungen zu setzen. Abseits dessen bleibt oder bliebe nur, Putin von innen heraus zu stürzen. Es wäre nicht die erste Diktatur, die so zu Fall gebracht würde. Vielleicht ist es ein ganz und gar falscher Respekt, zu glauben, die einstige Sowjetrepublik sei so übermächtig, dass es kein Mittel gäbe, ihre Herrscher aus den Angeln zu heben. Sie sukzessive zu zermürben.

Jedenfalls scheinen Sanktionen den Kreml nicht kleinzukriegen. Und der Krieg, so lassen es jüngste Erfolge erahnen, auch nicht. Selenskyis Rede von einem Sieg auf den Schlachtfeldern scheint eher ein Traum. Zumal die russischen Militärs (wie alle, auch die ukrainische Militärs) nicht von ihrem Glauben in die eigene Stärke abzubringen sind. Und die, nennen wir sie mal, Alliierten werden sich mit der Zeit eher schwerer tun, hier noch Unterstützung in die Ausweglosigkeit zu liefern. Was bleibt also außer, sagen wir mal: geheimdienstlichen Wegen, dem russischen Wahnsinn ein Ende zu setzen? Oder eine sehr viel größere Front der Putin-Widersacher aufzubauen?

Das ist, so erscheint es mir, bisher versäumt worden. Die Tränen, die in diesen Tagen über Nawalnyis Tod vergossen werden, müssen in einen Strom des politischen Widerstands münden. Es muss, auch und gerade mit Hilfe des Westens eine innerrussische Phalanx gegen Putin aufgebaut werden. Noch viel zu sehr hat man zugeschaut, wie die Opposition in Russland durch Bedrohungen, Festnahmen, Mord, Folter und Straflager kleingehalten wird. Man hat versäumt, sie finanziell und politisch zu füttern. Man hat sich auf eine Strategie versteift, die auf Einsicht hinausläuft. Aber wenn Einsicht bedeutet, Macht im eigenen Land abzugeben, dann ist dies illusorisch.

Trauen wir, traut der Westen, der Opposition in Russland zu wenig zu? Immer wieder wird betont, wie sehr Russinnen und Russen hinter dem Kreml-Regime stünden. Und dass Putin, auch Dank seiner Untertanen, fest im Sattel säße. Weil Russland-Hybris mehr wiege als Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat. Aber ist es so, dass aus vermeintlicher Suggestion ein Regime über alle Opfer hinweg, auch die des aktuellen Krieges, unbezwingbar ist? Der deutsche Widerstand gegen die Nazis reichte nicht aus, zugegeben. Aber auch deswegen, weil der Westen lange zugeschaut hat und die Sowjets glaubten, die Katastrophe durch Hitler-Kollaboration von ihrem Territorium fernhalten zu können.

Was derzeit gegen die Unterdrückung der Opposition in Russland und gegen Russlands kriegerische Aggression ins Feld geführt wird, wirkt hilflos. Stets aufs Neue müssen in den vergangenen Wochen Lücken bei Solidarität und militärische Hilfen neu geschlossen werden. Außer mit Sprüchen mehr mit Mühe. Zum Tod von Nawalnyi gibt es viele richtige Statements, auch klare. Aber wo folgen den Worten überzeugende Taten? Oder wenigstens die Ankündigung, dass Nawalnyis Tod als Aufforderung verstanden werden muss, die Kritiker des Kreml nach allen Kräften aufzurüsten? Der Verurteilung gnadenloser Herrschaft muss die Befeuerung der Zersetzung von innen folgen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Mijic

think-tank aus hamburg & bale (Istrien)

Andreas Mijic

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