"Da muss man auch mal aus`m Fenster pinkeln!"

Ein Interview mit dem Ex-Berliner Gilbert Kolonko. Über ein bewegtes Reiseschriftsteller-Leben, die Zeitungskrise und wie man in einem nepalesischen Berghotel auf die Toilette geht.

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Gilbert Kolonko, 3.v.links, umgeben von pakistanischen Freunden

Andreas Wiebel: Herr Kolonko, Sie reisen seit 15 Jahren durch Südostasien, sind für ein Buch 5000 Kilometer durch den bewaffneten Konflikt Nepals gelaufen, sind einer der wenigen deutschen Journalisten, die in Pakistan wochenlang durch Karachi oder Peschawar schlendern, der mit Sufis in die Wüste Belochistans gepilgert ist oder sich für einen Artikel wochenlang an einem der verseuchtesten Orte der Welt, in Dhaka Bangladesch, aufhält. Was war Ihre Motivation sich an diese Ecken der Welt aufzumachen und es immer wieder zu tun?

Gilbert Kolonko: Es war die Neugierde, der Hunger nach Wissen. In Gesprächen mit Freunden, die vor mir in Afrika und Indien gereist waren, erkannte ich, dass meine eigene Weltsicht sehr beschränkt war. Im Jahr 2000 bin ich dann zum ersten Mal nach Asien aufgebrochen. Sich selbst von aussen zu sehen, das war mein Plan und das passiert auf einer Reise ja ziemlich schnell. Aber das muss man auch verkraften können, was nicht so einfach ist. Ich glaube, deshalb landen auch so viele Reisende bei Drogen. Jedenfalls wollte ich zunächst mich verstehen und im nächsten Schritt dann alles andere. Die Zusammenhänge – vom Einzelnen zum großen Ganzen.

Das klingt ziemlich ambitioniert.


Sehen Sie, ich bin mit 100 Wörtern Englisch und einer alten Karte einmal um Indien herum gefahren. Meine Reaktion war damals: Wow, es gibt einen anderen Planeten auf unserem Planeten … Anschließend ging`s eigentlich ganz schnell, immer weiter und tiefer hinein in die großen Themen der Welt. 2003 bin ich in Sri Lanka in den Tamilen-Gebieten gewesen und habe erlebt, was Krieg und dessen Auswirkungen bedeutet. Danach wollte ich nur weg und bin 2003 nach Nepal gegangen, zum Laufen Laufen Laufen und dummerweise im nächsten bewaffneten Konflikt gelandet.

Wenn ich es richtig recherchiert habe, dann haben Sie über diesen bewaffneten Konflikt in Nepal, der 2005 die Abdankung des Königs und eine Verfassung zur Folge hatte, ein Buch geschrieben (Nepal: Das traurige Paradies). Wie kam es dazu und wie kamen Sie überhaupt zum Schreiben?

Da möchte ich zwei Dinge erwähnen. Mein Berliner Onkel kam irgendwann mit einer Zeitung – dem Berliner Tagesspiegel – auf mich zu und sagte in seiner überheblichen Art: Du brauchst mir gar nichts über Nepal zu erzählen, das weiß ich schon alles aus der Zeitung!

Aber nachdem ich den Artikel aus seiner Zeitung gelesen hatte, erkannte ich ein trauriges Muster. Der Autor flog nach Nepal, kam dort an, ließ sich sechs Tage herum führen und das war dann der Artikel. Ich empfand das als sehr einseitig, weil es überhaupt keine wirkliche Recherche gab.

Das hört sich nach hohen journalistischen Ansprüchen an, worauf wir vermutlich nochmal zu sprechen kommen werden. Zunächst zu Ihrem zweiten Beweggrund für`s Schreiben, was hat es damit auf sich?

Puh, das hat mit einer Begebenheit in einem kleinen nepalesischen Bergdorf namens Rukumkot – im Westen Nepals – zu tun, wo ich 2005 zwischen die Fronten geraten bin. Auf der einen Seite stand die Zivilbevölkerung, auf der anderen standen die maoistischen Rebellen. Diese Begebenheit auszuführen, führt an dieser Stelle jedoch zu weit. Die Essenz für mich war allerdings bedeutend: Ich habe die Geschichte zu erzählen. Aus der Sicht der Menschen, die wie von einem Mühlstein zwischen Maoisten und Armee zerrieben wurden.

Das klingt nachvollziehbar. Haben Sie denn eine journalistische Ausbildung absolviert?

Nein, wie ich beim ersten Aufschlagen meines Nepalbuches auch gleich feststellen durfte. Drei Rechtschreibfehler bereits auf der ersten Seite und ein Satz ging über eine halbe Seite … Beim zweiten Druck und mit Hilfe befreundeter Kritiker wurde es schon besser. Kurzum, Schreiben ist ein Lernprozess!

Den Sie mittlerweile seit über 10 Jahren praktizieren. Ihre Artikel erscheinen nicht nur in verschiedenen deutschsprachigen Zeitungen und (Online) Magazinen, sondern inzwischen haben Sie sogar ein Buch über Pakistan geschrieben (Pakistan: Opfer und Täter). Wie kam es zu dieser nächsten Etappe?

Nach Pakistan fuhr ich quasi zum Urlaub vom Bürgerkrieg in Nepal und stellte schnell fest, dass das, was ich dort sah, so gar nicht mit dem überein stimmte, was ich in den Zeitungen über Pakistan las: Bomben, Christenverbrennungen und Taliban, um`s mal salopp auszudrücken.

Und dann haben Sie ein Buch über Pakistan geschrieben?

Nein, eben nicht! Das Buch habe ich erst 2011 geschrieben. Davor bin ich jahrelang im Land unterwegs gewesen und habe den Menschen zugehört und zugeschaut. Ich erinnere mich an die Eindrücke aus Kohistan, wo die Frauen schlechter behandelt werden als Haustiere. Ganz im Gegensatz zur Region Hunza, ganz im Norden Pakistans, wo ich eine aufgeklärte, tolerante Gemeinschaft kennenlernen durfte, von der sogar die westliche Welt noch etwas lernen kann. Ich stellte also schnell fest, dass die politische, gesellschaftliche, religiöse, sprachliche Bandbreite in Pakistan extrem groß ist. In Karachi zum Beispiel bekommt man zuerst die außergewöhnlich hohe Kriminalität mit. Dahinter stellt man fest, dass die Symbole, die an den Häusern wie Gangzeichen zu sehen sind, politischen Parteien gehören. Dann beschäftigt man sich also mit der Geschichte der Parteien, dem Verhältnis zu Indien, den Auswirkungen des Afghanistan-Krieges und auch mit den westlichen Entwicklungshilfe-Versuchen. Erst als die Dinge für mich in die Tiefe gingen, habe ich mir zugetraut, die ersten Zeilen darüber zu schreiben.

Insofern sehe ich mich nach wie vor primär nicht als Journalist, sondern eben als Reisenden. Da ist jeder Tag, jedes Gespräch, jede Begegnung wertvoll an sich und nicht nur, wenn am Ende eine gute Story dabei heraus kommt. Die Geschichten kommen also quasi zu mir und nicht ich zu ihnen. Ich kriege das ja alles auf der Straße mit, weil ich meistens zu Fuß unterwegs bin, wie die Menschen gegeneinander ausgespielt werden und zum Teil selbst gar nicht wissen, dass die Leute im Nachbarbezirk genau die gleichen Probleme haben.

Welche gleichen Probleme sind das?

Dass auch die anderen keinen Strom haben und auch die anderen Gefahr laufen, beim Verlassen des eigenen Stadtteils aufgrund ethnischer oder politischer Konflikte erschossen zu werden und dass auch die anderen Schutzgeld an ihre politische Partei zahlen müssen, also an jene Leute, die sie vor der angeblichen Kriminalität der anderen warnen. Das sind Erfahrungen, die man am Schreibtisch nicht macht.

Höre ich da einen Vorwurf an die Berufsjournalisten heraus?

Jein. Bei aller Kritik, muss ich die Redakteure der deutschsprachigen Zeitungen auch in Schutz nehmen. Denn heutzutage hat fast jedes Printmedium damit zu kämpfen, seine bezahlenden Leser zu halten. Weil viele Menschen denken, Informationen wären kostenlos. In diesem Zusammenhang fällt es den Zeitungen auch schwer, der eigenen Stammleserschaft etwas aufzutischen, das gegen die eigenen Überzeugungen geht. Zudem haben die Auslandsredaktionen kaum Geld für Artikel von freienAutoren übrig, die sich noch selbst umschauen und die ´Drecksarbeit` nicht ihren Kontakten vor Ort überlassen, weil der größte Teil des Budgets für eine Flatrate bei irgendeiner Nachrichtenagentur draufgeht.

Aber es gibt doch noch Zeitungen, die sich feste Auslandskorrespondenten leisten, oder?

Das stimmt schon, und in ´meiner` Region sitzen sie fast alle in New Delhi. Da gibt es dann Beiträge über Nepal, Bangladesch, Sri Lanka, Indien oder Pakistan und unten steht immer Peter oder Uschi aus New Delhi drunter. Wenn einzelne Auslandsredakteure für ihre Magazine teilweise alle zwei Tage einen Artikel über ihre Region schreiben, dann müsste sich der Leser eigentlich selber fragen: Wann recherchiert der/die eigentlich. Hat er oder sie die erwähnten Orte jemals selbst gesehen?

Und warum können Sie sich dann teilweise einen Monat für einen Artikel Zeit nehmen?

In diesem Teil der Welt kommt man auch noch mit 200 bis 300 Euro im Monat über die Runden. Dafür geht’s dann halt im Rumpelbus oder in der Holzklasse durch die Gegend. Im Hotel gibt es keine Klimaanlage, dafür mitunter 12 Stunden Stromausfall bei 40 Grad im Schatten und im Winter sind in Kaschmir Minusgrade angesagt. Über mangelnde Herausforderungen kann ich mich jedenfalls nicht beklagen. In den örtlichen ´Hotels` in West Nepal muss man nachts auch mal aus dem Fenster pinkeln, weil 50 Schafe dicht gedrängt vor der Tür schnarchen…

Respekt!

Ohne meine Familie und meine Freunde würde es trotzdem nicht gehen und da rede ich nicht vom Geld. Vor ein paar Tagen hat mir eine befreundete Zahnärztin wieder meine kompletten Zähne in Ordnung gebracht, ein Freund in Österreich verkauft mal eben bei seinen Lesungen 50 meiner Bücher; meinen Bruder nicht vergessend, der mir von heut auf morgen eine Webseite zaubert und auch ansonsten den Rücken freihält. Im derzeitigen Klima des Umbruchs der Zeitungen kann man kaum den Anspruch eigener Vorortrecherche mit der Realität des finanziellen Überlebens verbinden.

Ist das ein systemisches Problem?

Ja!

Geben Sie doch ein paar praktische Tips, wie sich Leser besser informieren können.

Zuerst sollte man sich etwas Grundsätzliches klar machen: Wenn das Prinzip viele Klicks gleich wertvoller Artikel funktionieren würde, dann wäre die Bild-Zeitung vermutlich die wertvollste Zeitung Deutschlands. Das ist natürlich Quark. Ich plädiere dafür, öfters mal wieder eine Zeitung zu kaufen, am besten jeden Samstag eine andere. Da sieht man dann eine gewisse Konformität, aber auch die wirklichen Unterschiede. Viele Artikel werden eh nur noch für die Bezahlkunden angeboten. Außerdem wird man aus seinen eingefahrenen Gedankenmustern gerüttelt. Selbstverständlich ertappe ich mich selbst auch immer wieder bei einbetonierten Vorurteilen. Nach Jahren las ich kürzlich wieder eine volle Ausgabe des Neuen Deutschlands und merkte, wie sachlich viele Artikel formuliert sind. Bei einer Samstagsausgabe des Luxemburger Wortes stellte ich fest, dass dort anstelle einer Seite Ausland, gleich vier Auslandsreportagen zu lesen waren. Bevor wir uns also über die Presse aufregen – das Wort Lügenpresse ist derzeit ja beinahe schon salonfähig geworden – sollten wir so viel wie möglich von unseren eigenen kleinen Selbstlügen beseitigen.

Dankeschön!

Mehar-baani!
(Bitteschön auf Urdu, der Mehrheitssprache Pakistans)

http://blog.gilmalik.de


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