Daumen-hoch-Kino

Fotobuch Teju Cole bereist die Welt. Was ins Auge sticht, teilt er. Im Netz, im Museum und jetzt als Buch
Ausgabe 26/2018

Er folgt ihr durch die Straßen von New York. Sie bemerkt ihn nicht. Er macht Fotos von ihr, bis er sie im Gewühl verliert. Eins dieser Fotos findet sich in Blinder Fleck von Teju Cole, daneben die kurze Beschreibung der Verfolgung, die so endet: „Auf Instagram heißen die, die sehen, was du sahst, Follower. Das Wort eröffnet ein bedenkliches Feld.“ Bevor man sich in Gedanken über Privatsphäre und Plattformkapitalismus verliert, nimmt der Autor einen auf der nächsten Seite mit nach Paris ins Jahr 1981. Damals hat die französische Künstlerin Sophie Calle über ihre Mutter einen Privatdetektiv anheuern lassen. Er beschattet sie, denkt er, während sie ihm ihre Lieblingsorte zeigt. „Er sieht nur, was sie ihn sehen lassen will“, schreibt Teju Cole. Der amerikanisch-nigerianische Autor wiederum nimmt seine Leser in seinem vierten Buch mit um die Welt – sie sehen, was er sie sehen lassen will.

Coles lyrischer Essay, eine Kombination aus Bild und Text, ist ein dichtes Geflecht aus Referenzen. Ein experimenteller Roman, man hört Cole auf seinen Reisen um die Welt beim Denken zu. Ein unentwegtes Kommentieren und Mitteilen, das seinen Ursprung im digitalen Bilderstrom auf Instagram und damit (fast) in der Kommunikation in Echtzeit hat. Unter der Überschrift „Brooklyn“ schreibt er: „Du bewegst dich, die Autos bewegen sich, andere bewegen sich, selbst die Sonne bewegt sich, langsam, und inmitten dieser mannigfaltigen Bewegungen musst du entscheiden, wann du den Auslöser drückst, entscheiden, welcher dieser rasch sich erneuernden Momente interessanter ist als die anderen ringsum.“

Der 1975 geborene Cole ist Schriftsteller, Kunsthistoriker und Fotografiekritiker des New York Times Magazine. Er ist einer der wichtigsten Intellektuellen Amerikas, sein Roman Open City ist preisgekrönt. Ihm scheint alles zu gelingen, sieht man einmal von der abgebrochenen Doktorarbeit ab. Instagram ist sein Notizbuch, er hat fast 40.000 Follower. Die Kommentarfunktion hat er für andere Nutzer geschlossen. „Ich möchte mich nicht mit dem Lärm in den sozialen Medien befassen müssen, obwohl ich dort natürlich präsent sein will mit meiner Arbeit“, erklärt er im Gespräch: „Manchmal möchte ich einfach einem Gedanken folgen können, ohne Fragen dazu beantworten zu müssen.“ Seine Bilder sollen den Eindruck erwecken, man würde durch die Augen einer anderen Person sehen. Wie Cole selbst hat das Projekt viele Leben. Es ist sein Tagebuch im Netz gewesen, eine Ausstellung (noch bis 29. Juli im Museum Strauhof in Zürich) und jetzt, als Kondensat, ein Buch.

Follow me, follow you

Blinder Fleck ist intellektuelles Daumenkino. Eine Montage aus Fotografien, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben. Meist sind es Elemente in der Komposition, die Horizontalen und Vertikalen, die als Bindeglied fungieren. Auf das Foto von einem Hemd mit aufgedruckten Palmen folgt ein Foto von Ästen in einem Cabrio. Seine Bilder sind unaufgeregt, er selbst spricht von einem „niedrigen Puls“. Fotografen, die vor ihm das Zufällige auf der Straße festgehalten haben, die vielen blinden Flecken in den Augen der Touristen, sind es, die seinen Stil geprägt haben: Henri Cartier-Bresson, Robert Frank, Stephen Shore, Joachim Brohm, Luigi Ghirri und Guido Guidi.

„Dein Weg folgt keiner Linie, die, ob gerade oder gewunden, von einem Punkt zum anderen führt, sondern einer flirrenden Folge von Szenen“, schreibt Cole. Siri Hustvedt nennt ihn im Vorwort einen „Wanderphilosophen“ und „Gedankenflaneur“, sie versucht seinen Schritten um die Welt und seinen Gedanken durch Literatur, Kunst, Philosophie, Religion und Musik zu folgen, die Punkte zu einer Linie zu verbinden. Im besten Fall gelingt es, Cole beim Flanieren zu folgen. Im schlechten Fall verliert man ihn im Gewühl. Darauf legt er es an. Am Ende des Buches findet sich eine Weltkarte, darin sind die Orte eingetragen, an denen er die Fotos gemacht hat. Alle weiteren blinden Flecken muss der Leser selbst füllen.

Info

Blinder Fleck Teju Cole Hanser 2018, 352 S., 38 €

Anika Meier arbeitet als Kuratorin und Autorin. Sie schreibt unter anderem für Monopol, Spiegel Online und Photonews

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