Bloß keine Chaussettes auf der Croisette

Festival de Cannes Wer momentan die Strandpromenade entlangspaziert, kann schnell vergessen, dass es hier eigentlich um Filme geht. Wobei, Moment: Geht es hier überhaupt um Filme?

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Party, Palmen, Paparazzi
Party, Palmen, Paparazzi

Foto: Clemens Bilan/Getty Images

«Rosemary, die bis zur Abfahrt ihres Zuges eine halbe Stunde Zeit hatte, setzte sich ins Café des Alliés auf der Croisette, wo Bäume die Tische in grünes Dämmerlicht tauchten ...», heißt es in Zärtlich ist die Nacht. Das war 1933: dreizehn Jahre bevor, ursprünglich für 1939 geplant und durch eher braunes Dämmerlicht verschoben, erstmalig das Festival de Cannes stattfand.

Wiederum 70 Jahre später, zur 69. Wiederaufnahme des Spektakels, braucht es einiges an Muße, um der Croisette so viel träumerischen Charme zu entnehmen wie Fitzgeralds Rosemary. Lautstark navigieren Trillerpfeifen die Menschenmengen an bonbonbunten Cabrios vorbei und weiter, die Absperrzäune entlang, Merchandise-Shirts spannen über Touristenbäuchen, im dicken Fensterglas der Boutiquen spiegeln sich schnurrende Limousinen, C-Celebrities staksen hastig vorbei, Hündchen hängen hechelnd aus Handtaschen, sehnige Hände krampfen um Smartphones und Selfiesticks, Sonnenbrillen wie Bienenaugen ruhen auf verdächtig filigranen Nasen, das Möwengeschrei verliert sich in Basstönen, die aus den aneinandergereihten Cafés am Rand der Promenade drängen, es riecht nach Zigaretten, Polyesterschweiß und Abgasen. «Ich kann verstehen, warum man hier eine Bombe reinwerfen würde», sagt jemand im lahm trottenden Strom.

Und tatsächlich hört man es im Treiben der Croisette immer wieder «attentat» murmeln: Nach den Anschlägen von Paris und Brüssel hat das Innenministerium den état d’alerte ausgerufen und Cannes mit der höchsten Kameradichte Frankreichs versehen. Zu «außergewöhnlichen Mitteln» habe man gegriffen, um der «noch nie so da gewesenen Gefahr» entgegenzuwirken, berichten französische Medien. Während die Sicherheitskontrollen am Eingang des Palais du Festival eher zärtlich wirken, sind Kalaschnikows und Camouflage auf der Croisette nicht zu übersehen. Polizeitrupps durchkämmen die Regionalbahn, die die kleinen Buchten der Côte d’Azur entlangfährt.

Vielleicht braucht es also für ein wenig mehr Fitzgerald-Flair diesen roséfarbenen Filter, in dessen Schein Woody Allen seine Café Society umherflanieren lässt. Als auktoriale Stimme aus dem Off spürt auch er im Eröffnungsfilm dem Glamour der Dreißiger nach. Sein Azurblau stammt jedoch nicht von der Côte, sondern aus dem Pazifischen Ozean: In Hollywood trifft Neuankömmling Bobby (Jesse Eisenberg) auf down-to-earth-girl Vonnie (Kristen Stewart), sie verlieben sich, und das Erstaunlichste daran bleibt, wie sehr es die märchenhafte Bildsprache untersagt, immer noch an facebook und Vampire zu denken. Das Lustspiel macht einen Zeithüpfer, Jahre später trifft Society Lady Vonnie auf Parvenü Bobby – und irgendwie stellt sich da dann nicht mehr die Frage, warum Woody Allen zwar ein vierzehntes Mal in Cannes Premiere feiert, aber auch ein vierzehntes Mal außerhalb der Konkurrenz gezeigt wird.

Und wenn wir schon bei all den Zahlen sind, in denen dieses Festival gern umrissen wird: Acht Jahre lang war seit Wim Winders’ Palermo Shooting kein deutscher Beitrag mehr im Wettbewerb vertreten. Toni Erdmann trumpft gleich mit einer neuen Zahl auf. In der Bewertung des Screen-Magazins erzielt Maren Ades Film den höchsten jemals erreichten Mittelwert; 3,8 von vier Punkten geben ihm die zwölf internationalen Filmkritikerinnen.

Zuletzt war Ade bei der Berlinale durch zwei Poolvilla-Kammerspiele vertreten, 2008 als Regisseurin von Alle Anderen, 2015 als Produzentin von Tom Sommerlattes Debüt Im Sommer wohnt er unten: Thirtysomething traf hier auf mediterrane Hitze. Ihre Erzählung eines Vaters, der seine Tochter gern noch einmal neu kennen lernen möchte, siedelt sie nun im östlichen Teil Südeuropas an. In Bukarest arbeitet Ines (Sandra Hüller), Mitte 30, als Unternehmensberaterin und absolviert ohne Wimpernzucken ihren täglichen Meetingmarathon. Keine noch so minutiöse Beschreibung vermag die Präzision der nun folgenden Milieustudie wiederzugeben, ohne sie nicht zu verflachen: Dem altlinken Scherzrentner Winfried (Peter Simonischek), immer ein Faschingsutensil und am liebsten das Fake-Gebiss zur Hand, sind outsourcing und business cases fremd. Ebenso ist es seine Tochter, die die Betreuung ihres Vaters zunächst ihrer Assistentin überlässt, und so endet Winfrieds spontaner Wochenend-Besuch in Resignation. In den letzten Sekunden des Abschieds, in denen der Fahrstuhl scheinbar ewig braucht, beweist Maren Ade ihr Talent, durch Schweigen auf der Leinwand Schmerzen vor der Leinwand auszulösen.

Doch da geht der Film, kaum merkliche 164 Minuten lang, erst richtig los: Winfried bleibt in Bukarest, von nun an als Business Coach Toni Erdmann getarnt, und taucht überall dort auf, wo es Ines am stärksten in die Bredouille bringt. Ernsthafte Albernheit trifft auf karrieristische Ernsthaftigkeit, doch irgendwie gelingt es ihm, den schmalen, roten Lippen seiner Tochter dann doch ein Lachen zu entlocken.

Den ein oder anderen plakativen Moment des Generationenclashs gleicht die überaus konkrete Beobachtungsgabe Maren Ades aus. So entsteht in einer Dramaturgie stetig steigender Absurditätsstufen das entlarvende Bild einer dauerangespannten Generation, durch das sich sicherlich nicht nur Unternehmensberaterinnen ertappt fühlen. Ob sich die Spekulationen um wohlverdiente Goldene Palmen tatsächlich einlösen, wird sich am Sonntagabend herausstellen.

Auch in der Sektion Un Certain Regard sind Generationskonflikte ein maßgebendes Sujet. Die beiden israelischen Beiträge zeigen familiären Alltag im Angesicht des Nahost-Konflikts, ohne ihn dabei zum dominierenden Thema zu machen. Eran Kolirin entwickelt in Beyond The Mountains and Hills eine träumerische Bildästhetik, in der die Evakuierung einer Schule zum Zeitlupen-Ballett stilisiert wird. Während sich Tochter Yifat mit einem vermeintlichen Terroristen anfreundet, fällt ihrem Vater David der Neuanfang nach 27 Jahren in der Armee sichtlich schwer. Dass seine Frau Rina mit einem ihrer Schüler eine Affäre beginnt, macht die Lage nicht leichter – aber darin besteht die Stärke dieses Plots: Leicht ist er nicht, aber dabei doch zumindest lustig. Gleiches gilt für das Debüt der ehemaligen Setdesignerin Maha Haj, die in Personal Affairs eine Familie vorstellt, deren Kinder nun erwachsen – und nicht mehr jedes Wochenende bei ihren pensionierten Eltern in Nazareth sind. Die Darstellung der ehelichen Tristesse ist derart durchchoreografiert, dass sie zwar wehtut, aber auch Raum für eine ironische Distanz lässt.

In The Student (Kirill Serebrennikov), dem einzig russischen Beitrag der Sektion, verzweifelt eine Mutter dabei, ihrem Sohn bei seiner ganz eigenen Form der Radikalisierung zuzusehen. In seiner Auslegung des christlichen Glaubens zeigt sich, unterfüttert durch zahlreiche Zitate, wie viel fanatisches Potenzial in den vier Evangelien steckt – und wie viel reaktionäres Gedankengut, das gern einer anderen monotheistischen Religion vorgehalten wird. Religiöser Fanatismus wird auch in der französisch-ägyptischen Produktion Clash (Mohamed Diab) zum Thema, wenn Muslimbrüder und Armee-Anhänger nach einer Demonstration in einem Polizei-Truck aufeinandertreffen: In drastischen, teils zu stark symbolisch aufgeladenen Bildern vollzieht sich ein fast unerträgliches Kammerspiel auf acht Quadratmetern, das die Ereignisse rund um den ägyptischen Militärputsch im Sommer 2013 als Rahmen begreift.

Doch zum Glück ist da noch die Wohlfühlsektion Cannes Classics, die eine Flucht in die Schwarz-Weiß-Komplexität der 60er Jahre in Rom und Paris erlaubt: Masculin Féminin (Jean-Luc Godard), Signore & Signori (Pietro Germi) und Un homme et une femme (Claude Lelouch) lauten die programmatischen Titel einiger dieser Filme, in denen heteronormatives Begehren der einzige Grund zur Besorgnis zu sein scheint.

Warum – gerade im Angesicht des gynophobie-Vorwurfs, der das Ungleichgewicht der lediglich neun in Cannes vertretenden Regisseurinnen anklagt – solch konterrevolutionäre Klamotten aus einer Welt gezeigt werden, in der Männer sich mit Geld und Frauen sich mit dem Lidstrich befassen, warum eine zweifelhafte Programmatik also durch einen inhaltlichen Sexismus ergänzt wird, bleibt offen. Auf ersteren Vorwurf reagiert Festivaldirektor Thierry Frémaux übrigens gelassen: Gemessen an den sieben Prozent der international tätigen Regisseurinnen läge Cannes doch noch über dem Durchschnitt.

Der 15. Mai, als globaler Aktionstag der Nuit Debout-Bewegung ausgerufen, zieht an der Croisette still vorüber. Lediglich vor dem Carlton steht eine Menschenkette, die auf die Arbeitsverhältnisse der großen Hotels während des Festivals aufmerksam macht: «NON à la précarisation des emplois» steht auf ihren Flyern, die die Teilzeitbeschäftigung zu geringen Löhnen kritisieren. Mit Nuit Debout wollen sie jedoch nicht in Verbindung gebracht werden.

Insofern liegt der französische Essayist Guillaume Bigot, der in den Protesten der Place de la Republique nicht mehr als eine traurige Reminiszenz an den Mai 1968 sieht, vielleicht doch falsch – oder gerade richtig: Damals erzwangen die Nouvelle Vague-Stars Jean-Luc Godart und François Truffaut den Abbruch des 21. Festival de Cannes, um ihre Solidarität mit der zeitgleich in den Städten Frankreichs streikenden Arbeiter- und Studentenschaft zu signalisieren. Die Saalschlachten, von denen Augenzeuginnen berichteten, scheinen im glatten, braven Ablauf des Festivals von heute geradezu undenkbar.

In der täglich erscheinenden Festival-Gala wird indes vor Socken gewarnt, chaussettes seien auf der Croisette unangebracht. Die Bekleidung der Füße kann hier schnell zum Politikum werden: Als Frau ohne tallons muss man es am nächtlichen Einlass der Villa Schweppes erst gar nicht zu versuchen – oder statt hoher Absätze gute Überredungskünste mitbringen. Da ertappt man sich dann schnell dabei, sehnsüchtig an die zwar kälteren, aber auch wesentlich nüchterneren Tage im Februar zu denken, die das Berliner Äquivalent zu Cannes bilden. Von der deutschen Schwester unterscheidet sich die Croisetterie eben nicht nur darin, dass zu den englischen auch stets französische Untertitel gezeigt werden, dass der Filmmarkt hier nicht die Kelleretage eines Kinos, sondern ein eigenes Kastell mit rotem Teppich einnimmt, dass man schneller eine Visitenkarte als eine Hand entgegengestreckt bekommt, dass es eben kein Besucher-, sondern ein Branchenfestival ist, nein: Ein grundsätzlich anderes Selbstverständnis liegt hier zugrunde, das von Reglementierungen und einer strengen Etikette lebt und nun, nachts um halb fünf, in einem «S’il vous plaît, Madame, c’est le Festival de Cannes» Ausdruck findet.

Da muss man schon sehr konzentriert auf den leuchtend dämmernden Yachthafen blicken, um Fitzgerald folgen zu können: «Das frühe Morgenlicht warf das Bild von Cannes, warf das Rosa und Cremeweiß alter Befestigungen und den Purpur der Bergkette, die das Land gegen Italien hin abgrenzte, auf die Wasserfläche, und all diese Bilder zitterten nun leicht inmitten der Kringel und Kräuselwellen, welche die Pflanzen vom tiefen Meeresgrund durch das klare Flachwasser nach oben schickten ...»

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ann-Kristin Tlusty

Extrem belastbare, superflexible und überaus ambitionierte Jungjournalistin.

Ann-Kristin Tlusty

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