Autorin Antonia Baum: „Gut, am Ende steht dann der Herzinfarkt“
Interview „Siegfried“ von Antonia Baum ist ein Familienroman. Die Erzählerin ist eine moderne, junge Frau, der eines Tages alles zu viel wird. Ein Gespräch über die Frage nach dem „männlichen Blick“, Geschlechterrollen und Rollenverhältnissen
Antonia Baum im Interview: „Meine Protagonistin ist abhängig von den Blicken von außen“
Foto: Urban Zinte
Ihr neuer Roman erzählt von einer modernen jungen Frau – Mutter, Schriftstellerin –, der alles zu viel wird; die Beziehung, nicht zuletzt die Sorge um ihren Stiefvater, Siegfried, der einen Herzinfarkt erlitten hat. Wie ist die Frau zu der geworden, die sie ist? Der Interviewer kennt Antonia Baum vom Institut für deutsche Literatur der HU Berlin. Er war dort ihr Dozent. Jetzt also begegnen sie sich wieder, um über ihren Roman zu sprechen. „Nun bin ich aber gespannt“, sagt sie. „Wie lesen Sie ihn, wie die Protagonistin?“
Michael Angele: Ich lese Ihren Roman so, dass ich verstehen will, warum die Heldin in die Psychiatrie flüchtet. Damit fängt er ja an. Die Protagonistin lese ich, wie sie selbst die Welt liest: in ständiger Beo
die Welt liest: in ständiger Beobachtung. Sie ist gefangen in Ambivalenzen. „Eine Traurigkeit, in der ich mich auskannte, die mich fast tröstete.“ Toller Satz, davon gibt es viele im Roman. Wie soll man das auflösen?Antonia Baum: Weiß ich nicht. Aber wer hat denn gesagt, dass die Dinge auflösbar wären?Als Kind ist die Protagonistin viel bei Hilde, der Mutter ihres Stiefvaters Siegfried. Hilde ist eine schreckliche Naziperson, die ihre Enkelin quasi kaputt erzieht.Hilde verachtet alles Schwache. Sie ist brutal, strafend und ungeheuer leistungsorientiert, aber die Protagonistin liebt sie auf eine Weise sehr. Sie nimmt, was sie kriegen kann, und da ist Härte besser als Nichtbeachtung. Ihre Mutter und ihr Stiefvater sind sehr mit sich beschäftigt, Hilde dagegen lässt die Protagonistin nicht aus den Augen. Das hat aber auch etwas damit zu tun, dass Hilde ihrer Stiefenkelin übel nimmt, dass sie ein Mädchen ist. Denn Hilde wäre lieber ein Mann gewesen, weil Männer ihrer Generation höhere Chancen auf ein machtvolles, interessantes Leben hatten.Warum heißt der Roman „Siegfried“?Ich finde den Titel mutig, und doch will er mir nicht gefallen.Sie meinen, es sollte eher „Hilde“heißen? Es geht ja zentral um den männlichen Blick. Den haben sowohl Hilde als auch Siegfried. Weil es aber ein männlicher Blick ist, muss er Siegfried heißen. Außerdem ist dieser Siegfried ja kurz vorm Umkippen. Ein starker Mann, der sich immer für unbesiegbar gehalten hat.Man kann bei der Lektüre viel lernen als Mann.Um Gottes willen, niemand soll „lernen“, wenn er einen Roman liest. Es wird gerade viel zu viel didaktische Literatur geschrieben. Das wollte ich nun ganz und gar nicht.Dennoch: Ist es ein feministischer Roman?Ich würde das so nicht sagen, aber Geschlechterrollen spielen im Text eine wichtige Rolle. Beziehungsweise: eine bestimmte, typischerweise als männlich gedachte Lebensweise. Die des BRD-Selfmademan – machtvoll, immer bei der Arbeit, mit dem Anspruch, nicht aufgehalten zu werden. Wir halten uns im akademisch-urbanen Milieu ja tendenziell für sehr fortschrittlich. Aber wie immer bei gesellschaftlichen Veränderungsprozessen ist die Wirklichkeit nicht so weit wie der Anspruch. Meine Generation, die Frauen, auch die Männer, sind fast alle mit diesen Siegfried-Vätern groß geworden, sofern sie im sogenannten Westen aufgewachsen sind. Und dann kam die Götterdämmerung, die Zeit, wo das alles zu bröckeln begann. Das bringt viel Unsicherheit mit. Aber der Blick bleibt. Und er muss nicht zwingend von Männern ausgehen. Dieser Blick ist auch in den Frauen drin.Kennen Sie diesen Blick von sich?Natürlich.Sie verbinden das Blick-Motiv ganz klassisch mit dem Spiegel-Motiv. Es gibt diese beklemmende Sequenz, wo Hilde alle Spiegel aus dem Wahrnehmungsfeld der Protagonistin entfernt. Warum tut sie das genau?Es beginnt damit, dass es Hilde provoziert, wenn die Protagonistin sich im Spiegel sieht. Das will Hilde nicht. Und die Protagonistin weiß, dass Hilde das nicht will. Wenn eine junge Frau sich im Spiegel sieht, dann hat das zwei Aspekte. Das eine ist, sie kann erkennen, dass sie Macht hat, weil man sie begehrt. Es liegt darin aber gleichzeitig ihre Begrenzung. Denn sie wird ja immer auf ihr äußeres Erscheinungsbild zurückgeworfen, und das ist eben die zentrale Lebensbeleidigung von Hilde. Eine Frau zu sein. Ihre Stiefenkelin erinnert sie daran, und dafür bestraft sie sie. Also hängt sie die Spiegel ab, sie löscht sie einfach aus.Auslöschung spielt ja auch später eine Rolle, neben Ambivalenz ein Grundthema des Romans.Genau. Mit ihrem Partner Alex läuft es nicht, er guckt sie im eigentlichen Sinn nicht mehr an. Sie beginnt dann eine Affäre mit Benjamin, einer Art von modernem Siegfried. Der begehrt sie, schaut sie an, und sie hat das Gefühl, endlich wieder lebendig zu werden. Sie ist abhängig von den Blicken von außen, was zentral damit zusammenhängt, wie Mädchen sozialisiert werden, noch immer. Ihnen stehen vor allem zwei Tools zur Verfügung, um sozial erfolgreich zu sein: ihr Aussehen und sich um andere zu sorgen.Der Blick von Benjamin, mit dem sie eine Affäre hat, funktioniert einfach: Er begehrt die Frau, die sein Begehren genießt. Ja, das ist einfach, aber nicht unwesentlich.Moderner Siegfried meint konkret: ein unattraktiver Lektor, der seine Macht über schreibende Frauen genießt, an die er sonst nie rankäme, wenn er nicht Macht über den Text hätte. Allerdings ist dann doch nicht so klar, wie die Machtverhältnisse liegen.Die Protagonistin sagt zwar, Benjamin sehe nicht gut aus, aber er sei attraktiv. Weil er Macht hat. Er beherrscht die richtigen Sätze, trägt die richtige Kleidung, trinkt den richtigen Wein ... Beide haben etwas, was der jeweils andere braucht. Sie hat unter seinem Blick nicht nur das Gefühl, als Frau zu existieren, sondern auch als Autorin. Sie steht und fällt mit ihm.Diesen Benjamin empfand ich auch ein wenig klischiert. Aber vielleicht gibt es ihn ja wirklich.Sie finden so einen Benjamin in jedem Verlag, in jeder Zeitungsredaktion oder Kanzlei.Bleiben wir beim Schreiben. „Siegfried“ ist ein Familienroman. Sie verweisen auf seine Grundbedingung: Wäre die Familie eine glückliche, gäbe es den Roman nicht. Es gibt ihn, weil die Familie unglücklich ist. Aber der Familienroman weist über sich selbst hinaus. Die Geschichte des Unglücks ist keine Naturgeschichte. Meine Frage: Die Mutter der Protagonistin geht eine Affäre ein, verlässt Siegfried und fängt in Südfrankreich ein neues Leben an. Sie hat den Bann gebrochen. Dennoch ist sie kein Vorbild für die Tochter. Warum nicht?Siegfried ist gewalttätig und die Mutter verlässt ihn. Im Grunde hat die Protagonistin ihrer Mutter diese Gewalt nicht verziehen. Das klingt grausam – und ist es ja auch. Als Kind hält sie zu ihrem Stiefvater, nicht etwa zur eigenen Mutter, die von ihm geschlagen wird. Sie identifiziert sich mit Siegfried, nicht zuletzt, weil sein Lebensmodell autonomer, selbstbestimmter, erfolgreicher zu sein scheint. Und das wiederum kann sie sich dann später selbst nicht verzeihen. Gleichzeitig fühlt sie sich von ihrer Mutter verlassen, weil sie damals gegangen ist. Dabei war das natürlich das einzig Richtige. Das ist das Verhängnis! Das heißt doch nur, aus dem Bann der Familie kann man nicht ohne Verletzungen austreten.Wahrscheinlich.Deshalb muss Hilde alle Spuren der Frau ihres geliebten Sohnes in dessen Haus vernichten. Sie ist gnadenlos. Ein kalter Charakter.Einige, die es gelesen haben, mögen sie, finden sie lustig.Wie jetzt? Siegfried sagt doch selbst, dass seine Mutter eine „alte Nazisau“ sei. Okay, wenn sie über andere ablästert, hat sie gewisse Qualitäten. Aber sie muss immer kontrollieren, sie ist unerbittlich. So vieles ist unerbittlich!Ja, wie schrecklich. Nicht schön. Aber darum geht es.Da sind mir dann die Eltern von Alex in ihrem nicht abgeworfenen DDR-Kleinbürgertum viel sympathischer, sie tauen irgendeinmal auf vor ihrer verglasten Schrankwand aus Eiche.Das wollte ich in Opposition zu dieser westdeutschen Welt beschreiben. Alex’ Eltern zeigen eine Verunsicherung, die bei Hilde und Siegfried ja verboten ist. Alex wendet sich ab von seinen Eltern. Das wiederum verbindet ihn mit der Protagonistin, die aber den Blick ihrer Herkunft nicht los wird. Sie verachtet Alex’ Weichheit – weil er in diesem großbürgerlichen, sehr westdeutschen Milieu versagt. Er beherrscht ihre Formen nicht. Er ist ein Slacker, interessiert sich überhaupt nicht für Geld, trinkt lieber Bier. Er träumt von Filmen und einer eigenen Bar, allein die Tatsache, dass er überhaupt träumt! Als die beiden sich mit Siegfried während einer seiner Geschäftsreisen in einer Hotellobby treffen, kann Alex sich ewig nicht entscheiden, was er bestellen soll, und bietet dann an, zu bezahlen, was für Siegfried ein Affront ist, eine Missachtung der Hierarchie.Die Entscheidungsschwäche macht die Protagonistin sehr wütend. Ich kann das verstehen.Sie wollten aber gar nicht wütend werden, richtig? Weil Sie auch nicht hart sein wollen.Ja, aber er nervt. Auch hier ist es eben ambivalent.Es ist ein bestimmtes Set, das Alex nicht beherrscht, für das Siegfried steht: Geld, zielstrebig, schmerzfrei, effizient. Der kann ja nicht fassen, dass jemand einfach nur dasitzt und nichts tut. Gut, am Ende steht dann der Herzinfarkt.Das ist die Welt der Väter, die auf „Geschäftsreisen“ sind. Da ist in einem Begriff eine Welt eingefangen. Man könnte mit Peter Handke von „Abwesenheit“ sprechen. Aber Sie halten es mehr mit Thomas Bernhard. Früher war er für Ihr Schreiben sehr wichtig. Wie steht es heute?Ich liebe seine Bücher, immer noch, und ja, er war mal sehr wichtig. Aber ich bin zu diesen Suaden einfach nicht mehr imstande, ich beherrsche das technisch irgendwie nicht mehr.Wie wird Johnny, die Tochter der Protagonistin mit dem Jungennamen, dereinst aufwachsen? Was meinen Sie?Johnny wächst mit weniger Geld auf als die Protagonistin, weil es keinen BRD-Alleinverdiener-Siegfried mehr gibt. Das bringt Irritationen mit sich. Ihre Eltern versuchen, etwas anders, nämlich besser zu machen. Es ist ja ein bewusster Versuch. Aber beide, sowohl Alex als auch die Protagonistin, verlieren dabei die Kontrolle über ihr Leben.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.