Im Café am Alexanderplatz schluckt der Lärm jedes Wort. Auch meine Bestellung geht in Kaffeemaschinenzischen unter, ein Milchaufschäumer röhrt, spritzt weiße Blasen auf den Tresen. Dem Mitarbeiter dahinter rutscht ein Tablett frisch gespülter Tassen vom Arm – krachend zerbirst die Keramik auf den Fliesen. Schrille Ouvertüre zu einem Gespräch über klassische Musik mit zwei Pianistinnen. Dass Danae, 29, und Kiveli Dörken, 25, Schwestern sind, fällt sofort auf: schwarze Augen umrahmt von dunklen Kringellocken, darunter weiße Masken, die sie sich zur Begrüßung fast synchron vom Gesicht ziehen. Die Töchter einer Griechin und eines Deutschen sind in Wuppertal geboren, in Düsseldorf aufgewachsen, seit ein paar Jahren im Berliner Raum ansässig. Sie gelten als Ausnahmebegabungen. Kritiker vergleichen Danaes Spiel mit dem der jungen Martha Agerich, loben ihre „Ausdruckstiefe“ und „differenzierte Anschlagskultur“, bei Kiveli „Temperament, technische Brillanz und ansteckenden Enthusiasmus“.
Wie der dicke Brahms
Im Café fläzen nun beide leger in Jeans und Shirts in flauschigen Sesseln und schmunzeln über die gestelzten Rezensenten-Phrasen. Obwohl – das Lob mache sie natürlich auch stolz. Peinlich werde es manchmal bei den Äußerlichkeiten: schwarzlockig, quirlig, temperamentvoll, „eben so das Griechenlandklischee“, sagt Kiveli. Der treffende Ton, ein klarer Anschlag sei nicht nur auf dem Klavier hohe Kunst. Der Lärm nervt, aber das Café liegt günstig am Bahnhof, wo eben ihr Zug aus Königs Wusterhausen angekommen ist. Seit Danae vor vier Jahren mit dem ersten Sohn schwanger war, ist sie mit ihrem Freund ins Brandenburgische gezogen. Frische Luft statt Großstadtstaub, Garten mit Blick auf den Wald und unbegrenzte Übezeit. Den Lockdown haben die Schwestern dort gemeinsam verbracht, viel geübt, neue Formate ausprobiert.
Sie gestikulieren, lachen, sprechen forciert gegen die Geräuschkulisse, damit alles aufs Band kommt.
Danae erzählt, wie sie das Klavier für sich entdeckt hat. Da ist sie vier und hört auf einem Kindergeburtstag ein Mädchen spielen. Seitdem ist sie Feuer und Flamme. Ihre Eltern haben mit klassischer Musik nichts am Hut, sie muss sie überzeugen. „Meine Mutter wollte lieber, dass ich Ballett tanze.“ Das erste Klavier im Haus ist „ein gemieteter Kasten mit klapprigem Sound“, erinnert sich Danae. Es wird zum Zufluchtsort, „ein safe space“, den sie ganz für sich hat. Die Klänge, die sie darauf hervorbringt, können die Eltern nicht übersetzen, aber sie bestaunen deren Kraft. Mit elf spielt sie an der Musikhochschule Hannover Karl-Heinz Kämmerling vor. Kämmerling fördert auch Igor Levit und Alice Sara Ott, seine Klavierklasse gilt als Talentschmiede. Im Schlepptau die erst siebenjährige Kiveli. Kämmerling ist beeindruckt vom unbedingten Ausdruck, den technischen Möglichkeiten der Schwestern und nimmt beide als jüngste Studentinnen in der Geschichte der Hochschule auf.
Gab es nie die Angst, in den Fußstapfen der älteren Schwester zu versinken? „Ja, manchmal fragte ich mich, ob es Platz für zwei Pianistinnen mit dunklen Locken und demselben Nachnamen gibt.“ Kiveli lächelt. Aber das Klavier schweißt die beiden zusammen: „Wir gegen den Rest der Welt“, sagt Danae. Von Anfang an seien sie sich sehr nah gewesen, das gilt bis heute. „Manchmal sogar zu nah“, sagt Kiveli. „Als Danae schwanger war – immerhin zwei Mal in den vergangenen vier Jahren! – wurde es auf der Klavierbank ungemütlich.“ Kiveli mustert die zierliche Schwester, muss grinsen „Du saßt da wie der dicke Brahms und ich musste ständig zurückweichen, das war irre, ein absolut anderes Spielgefühl!“
Sie zeigen ein Video, auf dem sie Igor Strawinskys Sacre du Printemps spielen, die Kamera filmt die Hände auf der Tastatur. Vier mal fünf Finger, die sich überkreuzen, zu pfeilschnellen Attacken ausholen, scharfe Akzente setzen, sich ineinander verflechten, lösen, umspielen. Eine virtuose Choreographie, die auch ohne Ton fasziniert. Das Klavier-Duo sei die intimste Form der Kammermusik, eine entblößende Kunst, sagt Danae, so dicht an dicht am selben Instrument, ohne Vertrauen sei das schwer: „Jede Stimmung manifestiert sich im Körper, im Anschlag.“ Sie beschreiben ihren idealen Klang, dessen Fülle sich nur entfalte, wenn man sie aus der Tiefe des Instruments holt. „Nur Tasten drücken, hämmern, reicht nicht“, sagt Danae. Es geht um Schwerkraft, nicht um Gewalt – und es geht um Raum. Farbnuancen entlocken sie dem Instrument, indem sie den Ton wie ein Sänger ansetzen, ihren Atem bis in die äußersten Fingerspitzen senden. „Good vibrations entstehen nie ohne Empathie“, sagt Kiveli. Sie lacht und streicht sich energisch die Locken aus der Stirn.
Geräusche aus der Heimat
Aus der geheimen Klangwelt ihrer Kindheit ist eine große internationale Reichweite gewachsen. Jenseits ihrer Auftritte als Duo gastieren sie inzwischen auf allen wichtigen Festivals und Konzertpodien. In ihrer jüngsten Einspielung East and West geht Danae auf eine musikalische Identitätssuche und ergründet in Werken Schuberts, de Fallas, Bartóks und des griechischen Komponisten Manolis Kalomiris die Bandbreite des Folkloristischen. „Jede dieser Kompositionen hat ihre ganz eigene Melodie und Rhythmik, die in der Kultur des Komponisten wurzelt“, sagt Danae. „Mir ging es darum, Vielfalt als etwas zu zeigen, das uns näher zusammenbringt und enorme Stärke geben kann.“
Musikalische Grenzöffnerinnen
Wie finde ich im Fremden, was uns verbindet, fragen Danae und Kiveli Dörken. Die deutsch-griechischen Pianistinnen, geboren 1991 und 1995, studierten bei Karl-Heinz Kämmerling und Lars Vogt in Hannover. Als Siebenjährige trifft Danae Dörken Yehudi Menuhin, eine Schlüsselbegegnung. Musik setzt Kräfte frei, als Interpretin liefert man mehr als Töne, ist Botschafterin. 2006 spielt Danae Dörken vor der damaligen US-Außenministerin Condoleezza Rice, ihre Schwester Kiveli 2007 vor dem Dalai Lama. Konzerte führen Danae und Kiveli Dörken in die meisten Länder Europas, nach China, Russland, die USA und in viele renommierte Konzertsäle, wie das Gewandhaus Leipzig, die Tonhalle Düsseldorf, die Kölner Philharmonie, das Konzerthaus Berlin, die Alte Oper Frankfurt und das Mariinsky-Theater II in St. Petersburg.
Mit dem Molyvos International Music Festival (MIMF) setzen sie sich nicht nur für den musikalischen Austausch zwischen Deutschland und Griechenland ein, sondern für musikalische Grenzöffnungen weltweit. In ihren jüngsten Einspielungen entdecken sie das Volkslied als Schlüssel kultureller Vielfalt. Danae Dörkens CDs East and West (ARS) und Zwischen Nostalgie und Revolution (GENUIN) wurden für mehrere Preise nominiert, Kiveli Dörkens Kammermusik Einspielung des Komponisten Ferdinand Ries mit dem Franz Ensemble (MDG) erhielt den Opus Klassik 2020 in der Kategorie „Innovative Audioproduktion des Jahres“.
Abseits ihrer solistischen Karrieren sind die Schwestern begehrte Kammermusikpartnerinnen und konzertieren regelmäßig als Duo. Beide engagieren sich für Education-Programme. Eine Uraufführung über das Leben der griechischen Dichterin Sappho wird sie im November nach Zypern führen.
Danae und Kiveli Dörken reden über Gegensätze, die das Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik zeigen, brennende Flüchtlingslager neben idyllischen Badebuchten. Sie reden über das Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos, Sinnbild für Europas menschliches Versagen. Danae und Kiveli kennen die Insel gut, ihre Mutter wurde hier geboren, jeden Sommer haben sie im Küstenort Molyvos bei der Großmutter verbracht. Vor fünf Jahren, als die ersten Flüchtlinge die Insel erreichen, auf dem Höhepunkt der griechischen Finanzkrise, gründen sie ein Kammermusikfestival. Warum? „Den Plan, die klassische Musiktradition, die wir lieben und mit der wir in Deutschland aufgewachsen sind, mit unseren griechischen Wurzeln zu verbinden, gab es lange vorher“, erklärt Danae leise. „Wir wollten Molyvos mit Klängen bereichern, die man dort nicht kennt, die aber inzwischen zu unserer Leidenschaft, unserer Berufung geworden sind.“ „Der Plan war, ein binationales Festival zwischen Griechenland und Deutschland zu kreieren“, ergänzt Kiveli. Sie schwärmt von der Atmosphäre in der byzantinischen Burg aus dem 11. Jahrhundert, vom Licht, den Glühwürmchen, die in sternklaren Nächten über den Zinnen tanzen, und wie betörend gerade Messiaen hier klinge. Aber geht das – Kammermusik in denkmalgeschützten Mauern, während am Hafen erschöpfte Flüchtlinge stranden? „Gerade in dieser schwierigen Zeit brauchen die Menschen eine positive Gegenkraft! Auch diejenigen, die vom Tourismus leben.“ Kivelis Stimme klingt heiser. Sie würden die katastrophalen Bedingungen sehen, den Dreck, die Müllberge zwischen notdürftig errichteten Zelten, viel zu viele auf engstem Raum, darin Tausende Bedürftige, Traumatisierte, Hoffnungsgierige. Aber sie sehen auch die Depression der Inselbewohner, die leeren Pensionen, Restaurants, die geschlossenen Bars und Geschäfte. „Wir wollen hier keine weitere Klassik-Hitparade abfeiern, aber mit dem Festival möchten wir der Insel etwas von ihrem Glanz zurückgeben“, sagt Danae. Sie erzählt, wie sie Geflüchtete zu ihren Konzerten eingeladen haben. Anfangs sei das noch unkompliziert gewesen, 2016 spielten sie im Lager Moria Richard Strauss‘ Metamorphosen und Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du temps (Quartett für das Ende der Zeit) – in Deutschland, auf etablierten Konzertbühnen, gelte das als sperriges Programm. „Wir wissen, dass wir mit unserer Musik keine Traumata heilen, aber wir können Kraft spenden.“ Die Offenheit und Freude der Menschen, vor allem der Kinder, habe sie überwältigt, sagt Kiveli. Sie sehen aber auch, wie die Hoffnung auf ein besseres Leben von Jahr zu Jahr weniger wird, die Hilfsbereitschaft abnimmt. „Das zu sehen, schmerzt besonders“, sagt Danae, „denn zur griechischen Kultur gehört es, Fremde willkommen zu heißen, gerade hier auf Lesbos, wo sich über die Jahrhunderte viele Migranten integrierten. Jetzt sitzen hier 13.000 Menschen ohne Perspektive fest. Ein Witz für Europa, aber viel zu viele für eine kleine Insel.“ Danae wirkt müde, sie hievt sich mit einem Ruck aus dem Sessel.
Auf Lesbos haben die Schwestern musikalische Bildungsprojekte etabliert. In integrierten Flüchtlingsklassen spielen sie Kindern nicht nur klassische Musikstücke vor, sondern regen sie an, selbst kreativ zu werden. Zum diesjährigen Festival, das Ende August trotz Corona stattfand, haben griechische Kinder und Kinder von Geflüchteten Geräusche aufgenommen, die sie an ihre Heimat erinnern. Soundschnipsel voller Sehnsucht – schäumende Gischt, Glockenläuten, das Lied zweier syrischer Jungen –, die der griechische Komponist Nickos Harizanos zu einer eindringlichen Collage verwoben hat. Das Stück Moments ist den Kinder auf Lesbos gewidmet und entfaltet seine Tragweite durch deren Stimmen. Ob die bis nach Berlin dringen? Oder wenigstens bis zum griechischen Festland?
Das kleine syrische Volkslied, die Freude, Sehnsucht und Hoffnung, die aus den Jungen-Stimmen klingen, lassen Danae und Kiveli jedenfalls nicht mehr los. Vom Mut dieser Kinder könnten wir uns alle eine große Scheibe abschneiden, sagen sie.
„Musik hat die Kraft, Unterschiede in einer Phrase zu formulieren“, sagt Kiveli beim Abschied. „Ihr gelingt es, krasse Gegensätze in den schönsten, aufregendsten Klängen auszuhalten. Damit kann sie Barrieren durchbrechen und vermag manchmal mehr als die Politik“.
Am Nachbartisch im Café singt ein Kind aus voller Kehle gegen den Lärm an: „Es tanzt ein Bibabutze-Mann in unserm Haus herum, widebumm“. Vom Tresen antwortet das laute Zischen der Kaffeemaschine.
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