Fuck the Brecht away

Bühne Der ewige Bertolt und sein Kurt Weill treffen am Stuttgarter Schauspiel auf die Elektroclash-Ikone Peaches. Aber warum?
Ausgabe 07/2019

Sie singt „I’ve got light in places, you didn’t know it could shine“ (Ich leuchte, wo du nicht wusstest, dass ich leuchten kann) und schüttelt wild zu eckigen Beats – ganz Punk-Artemis-like – die fünf Silikonbrüste an ihrem Latexsuit. Endlich, nach knapp 40 Minuten gesitteter Brecht/Weill-Performance hat die kanadische Elektroclash-Ikone Peaches die Bühne des Stuttgarter Schauspiels vollständig gekapert. Harsch und unbedingt jongliert sie mit Insignien der Pornoindustrie, zerrt sie lustvoll ins Absurde – dirigiert tanzende Plüsch-Vaginas, kriecht in einen riesigen Dildo, schwebt vom Bühnenhimmel herab, thront als queere Hohepriesterin, während Josephine Köhler und der Tänzer Louis Stiens ihre in Plastikpants gezwängten Körper im Stroboskoplicht recken. Auseinanderklaffende Beinpaare rücken das Geschlecht – hier mit extra Reflektoren beklebt – in den Fokus: Was sind wir denn – Frau, Mann, irgendetwas dazwischen? Kurz zuvor hat Peaches noch als Anna I in Brechts Sieben Todsünden distanziert die Verhältnisse angeprangert, nun bohrt sie so richtig tief hinein in unsere hyperkapitalistische Gesellschaft.

Seit mehr als zwanzig Jahren bringt Peaches mit Penisattrappen und Schamhaartoupets den Gender-Diskurs auf Hochtouren. In Stuttgart antwortet sie jetzt auf Bertolt Brechts und Kurt Weills ballet chanté – das als Koproduktion mit dem Choreografen Georges Balanchine 1933 in Paris uraufgeführt wurde – mit einer eigenen Version: Sie deutet die sieben Todsünden in hemmungslose Sex-Bekenntnisse um, Hauptsache nasty, versaut, wobei Geschlecht, Position, Rasse und Klasse anarchisch durcheinanderpurzeln.

Vermöbeln, ermüden

Den selbst erarbeiteten Höhepunkt („stargasm“) feiert sie als Sprengsatz des (heterosexuellen) Systems und fordert die radikale sexuelle Freiheit als Ausdruck emanzipierter Diversität. Ihre wichtigste Zutat dabei: Selbstironie: „So much beauty coming out of my ass“ (so viel Schönheit kommt aus meinem Hintern). Ihre Songs konterkarieren die furchteinflößende Sündenlitanei des Katholizismus, die ihr wie Titel vorangestellt werden. So setzt Peaches anstelle der Wollust ihren legendären Song Fuck the pain away und deutet die Faulheit frech mit einem Stellungswechsel um: „Dig in the air“ – Streck den Schwanz in die Luft, bleib einfach auf dem Rücken liegen.

Funktioniert das? Ist das nicht zu simpel für ein erstes ambitioniertes Gemeinschaftsprojekt von Oper, Ballett und Schauspiel am Stuttgarter Theater nach 23 Jahren? Ist diese Verquickung von Geschlechter- und Kapitalismuskritik nicht ziemlich an den (Scham-)Haaren herbeigezogen? Anna-Sophie Mahler ankert bei Brecht selbst. Der verpackt in den Sieben Todsünden seine Kritik am System in ein weibliches Martyrium. Anna wird von ihrer Familie auf den Strich geschickt, damit diese sich ein Haus leisten kann. Brecht und Weill konzipierten die Familie als reines Männerquartett. Die Verurteilung des weißen heterosexuellen Systems, sie steckt also bereits im Original. (Ob die weißen Heteros Brecht und Weill sich dessen bewusst waren?) Und die Frisur – oben wie unten – ist Politikum. Peaches’ platinblonder Undercut wird daher zum Markenzeichen aller Darstellerinnen.

Zunächst aber – bevor Peaches mit ihrer schrillen One-Woman-Show die Stuttgarter Bühne verhext und ihren Hintern über die ersten Reihen schwingt, um auf einem Abonnentenschoß in Schockstarre Platz zu nehmen – beginnt der Abend sehr geradlinig. Anstatt Annas Leidensweg in unterschiedlichen Stationen zu bebildern, inszeniert Mahler ihn mit sieben K.-o.-Runden in einem Boxring. Der bereits bei Brecht gespaltenen Hauptfigur werden zwei weitere Alter Egos hinzugefügt. Peaches gibt – brav im cremefarbenen Hosenanzug – mit kühlem Ton von der Seite die Erzählerin Anna I. Erstaunlich, wie ihr selbst Weills spröd-schräger, dann wieder herrlich süffiger Hollywoodsound liegt, den das Stuttgarter Staatsorchester unter Stefan Schreiber mit viel Verve und Genauigkeit kreiert. Unterstützt wird sie von Melinda Witham als schweigender Doppelgängerin. Und im Ring boxen Josephine Köhler und Louis Stiens als Anna II ihren Kampf ums emanzipierte Selbst. Wie virtuos sie sich als Peaches-Kopien gegenseitig vermöbeln, ist für eine Weile hübsch anzusehen, ermüdet dann aber. Erfrischend hingegen sind die Eingriffe des Familienclans, den Anne-Sophie Mahler als brutalen Ringrichter ganz im Style der 1930er Jahre zeigt: in Hosenträger, Fliege und mit Pomade-Scheitel. Das differenziert und keck singende Männerquartett (Elliott Carlton Hines, Gergely Németi, Christopher Sokolowski und Florian Spiess) versetzt dem Geschehen nicht nur sängerisch wichtige Impulse: Die sechste Runde gerät zu einem Schattenboxen von expressionistischer Stummfilmqualität. Vom Schnürboden fällt ein Gazevorhang, hinter dem, nach einem Lichtwechsel, Finger, Beine und Schuhe zu überdimensionierten Folterinstrumenten wachsen, die Anna II langsam zerquetschen.

Josephine Köhler, die nach dem Epilog wie eine ausrangierte Puppe im Ring hängt, hat nun die schwierige Aufgabe, den Spagat zur Peaches-Show zu schaffen, die Mahler als gegenwärtige Fortsetzung zu Brechts Lehrstück verstanden haben will. Köhler spricht vom Proletariat der Frauen, von den schlecht gefickten, ausrangierten, die nicht im Licht stehen, aber auch von Männern, die nicht zum Helden und Beschützer taugen. Der Text aus Virgine Despentes’ King Kong Theorie ist keine große Literatur, eher ein Pamphlet, doch Köhler findet einen beiläufigen Ton, der diesen Monolog zu einem guten Theatermoment macht. Ob er dramaturgisch wichtig ist, sei dahingestellt. Dann entschwindet die Boxarena in den Bühnenhimmel und Peaches senkt sich wie eine Gottesanbeterin herab.

Selten war der Tod so mickrig

Dass in ihrer Show noch einmal das gesamte Personal des Brecht-Teils antanzen darf, täuscht nicht darüber hinweg, dass die Teile nicht wirklich schlüssig miteinander verbunden sind. Und genau das wirft die Frage auf, warum spartenübergreifend, wenn’s keine zwingende Idee gibt, die unterschiedlichen Künste miteinander zu verzahnen? Was als große Versprechung in den Raum getragen wurde, löst sich leider nicht ein. Am härtesten trifft dies auf den Schlussteil zu. Sphärische Streicherklänge werden immer wieder durch ein schrilles Trompetensolo zerrissen, doch die dissonanten Holzbläser finden keine klare Antwort: zu Charles Ives’ Unanswered Question schreitet Melinda Witham, die man schon zu John Crankos Zeiten in den 1970ern auf der Bühne sah, den Raum ertastend, aufnehmend, mit brüchigen Gesten immer weiter ins Bühneninnere, bis sie im gleißenden Scheinwerferlicht verschwindet. Es ist Withams letzte Produktion. Doch nach der so übermächtigen Peaches wirkt dieser zarte und leise Abschied, der Ausblick auf Altern und Tod, nicht poetisch offen, sondern leider nur seltsam mickrig.

Sieben Todsünden Ballett mit Gesang von Kurt Weill, Text von Bertolt Brecht / Live Testimonial by Peaches, Anna-Sophie Mahler (Regie), Schauspiel Stuttgart

Antonia Munding ist Theaterenthusiastin, als freie Autorin arbeitet sie unter anderem für den Deutschlandfunk und Oper! das Magazin

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