Seltsame Andacht

Feldlerche Mit dem eigenen Cello kommen die Leute an, um auf dem Tempelhofer Feld für den Vogel des Jahres 2019 aufzuspielen
Ausgabe 24/2019

Klänge hat das Tempelhofer Feld schon viele geschluckt – die Aufmärsche der preußischen Armee, das Gebrüll der Fußballhelden von BFC Germania 1888, später die röhrenden Getriebe der Rosinenbomber. Das „Große Feld“ zeichnet die Lautschriften seiner Paradigmenwechsel ebenso wie die groben Betonnarben überm Grün. Vor fast genau fünf Jahren avancierte es zum Symbol der Freiheit. Durchgesetzt hatten das hunderttausende lautstarke Berliner, die sich gegen seine Bebauung wehrten. Seitdem erfüllt es vielerlei Bestimmungen – Grill-Areal, Drachensteiger-Wettstrecke, Joggingbahn, Eventmeile. Wer oder was auch immer hier spielt und tönt – Berlins große Brache erträgt es mit Gleichmut und Grandezza.

Schon Monate vor Christi Himmelfahrt hat das Rundfunksinfonieorchester (rsb) gemeinsam mit seinem derzeitigen „Artist in Focus“, dem Cellisten Johannes Moser für ein großes Mitmachkonzert geworben: „Stell dir vor, Celloklänge fliegen übers Tempelhofer Feld – und du bist mit dabei… Ich freu’ mich auf dich“, säuselt Mosers Stimme aus dem Off, während eine Fotodrohne die Weite des Feldes und die Somewhere over the rainbow-Griffe des Virtuosen einfängt – stimmungsvoll, aber auch ein bisschen wie Nescafé-Werbung. Mit dem Trailer will das rsb nicht nur neues Publikum an Land ziehen, sondern auch einem bedrohten Vogel helfen. Es trägt damit seinem Kooperationspartner der Saison, dem Naturschutzbund Nabu Rechnung. Der kürte die Feldlerche zum Vogel des Jahres 2019 – ein hübscher Bodenbrüter, den man früher gerne mit viel Butter verspeiste oder als zahmen Sänger im Käfig hielt. Heute ist der lehmbraune Bursche mit dem kleinen Feder-Iro von der konventionellen Landwirtschaft bedroht – sein Bestand drastisch zurückgegangen. Auf dem Tempelhofer Feld leben derzeit fast 40 Prozent der Berliner Population.

Kluges Marketing ist das, klassische Musik, Event, Natur- und Tierschutz in einem Celloschwarm zu verzahnen. Johannes Moser hat damit kein Problem. „Das passt doch wunderbar zusammen. Vor allem hier auf dieser offenen Fläche, auf der nichts vorgefertigt ist und die Platz für alles und jeden bietet.“

Sonnenmilch wird verteilt

Im Interview vorab erzählt Moser, was ihn neben seiner solistischen Karriere vor allem umtreibt: Wie man die klassische Musik aus ihrem Elfenbeinturm befreit, ihr den Nimbus des Elitären abstreift. Schon als Student hat er sich bei der Yehudi Menuhin Stiftung „live music now“ engagiert, in Altenheimen und Gefängnissen konzertiert. Die Erlebnisse dort haben ihn menschlich, aber auch künstlerisch mehr bereichert als so mancher hochdotierte Wettbewerb, sagt er. Und deswegen nutzt Moser die Zeit außerhalb des Konzertsaals, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die nicht zum üblichen 20-Uhr Publikum zählen. In Berlin hat er die Tage vor dem Celloschwarm in einer Bahnhofsmission, für Menschen mit geistiger Behinderung, vor Straffälligen und Obdachlosen gespielt. Die Air von Bach, Pablo Casals Song of the Birds, aber auch Walter Jurmanns Nonsens-Hymne Mein Gorilla hat ’ne Villa im Zoo. Im engen Ladenlokal der Wohnungslosenhilfe in der Brunnenstraße wird aus voller Kehle mitgesungen. Ein beeindruckend tätowierter und gepiercter Herr mit weißem Haar wischt sich ein paar Tränen aus den Augen – vor Lachen. Moser trifft den richtigen Ton. Elegant und tiefgründig mit Lutoslawski, Dutilleux oder Bach, aber auch voller Spielwitz mit Ufa-Schlagern und Songs. Und auch nicht nur auf seinem Cello. Er ist ein Kommunikationstalent für und über die Musik hinaus. Eines seiner Lieblingsworte lautet „ergebnisoffen“.

Dass ihn sein good will vielleicht nicht zu den originellsten Werbeideen verführt – geschenkt. Sein Erfolg lässt die Kritiker verstummen. Das leicht verkitschte Video jedenfalls hat 160 Cellistinnen und Cellisten zum ehemaligen Flughafengelände gelockt. Mit ihren großen Instrumentenkoffern auf den Rücken wirken sie zwischen Fahrradfahrern, Skatern und bunten Drachen wie Schildkröten, die sich ihren Lebensraum zurückerobern. Moser gibt jedem persönlich die Hand. rsb-Helferinnen verteilen Klappstühle.

Eine graugelockte Dame hilft ihrer Enkelin, die Noten mit Wäscheklammern zu befestigen, ein korpulenter Mann mit noch korpulenterem altmodischem Cello-Koffer hängt hechelnd über seinem Instrument. Übers Feld weht eine kräftige Brise und treibt die Wattewölkchen zu immer neuen Formationen. Ein Skater mit Dreadlock-Turban und kanariengelben Kopfhörern umkreist den Schwarm in Achten. Moser dirigiert übers Mikrofon eine kurze Probe, verteilt Sonnenmilch und freut sich, wie „phantastisch“ der Schwarm schon im Anspiel klingt. Gemeinsam mit den Cellisten und Cellistinnen des rsb hatte er Tutorials mit vereinfachten Stimmen ins Netz gestellt, die offensichtlich alle fleißig studiert haben.

Dann schwingt sich leicht verschoben Bachs Air übers Feld, entfaltet ihre sehnsüchtige Melodie, während sich die Mittelstimmen immer stärker verdichten und ineinander verflechten. Ein Junge, der weit vorn mit seinem Bogen und den Kontrapunkt-Wendungen kämpft, wischt sich tapfer den Schweiß von der Stirn.

Eine seltsame Andacht beherrscht das Feld. „Geiler Sound“, murmelt jemand. Der Dreadlock-Skater hat scharf neben mir gebremst, die Kopfhörer runtergerissen und nickt jetzt anerkennend. Für ein paar Takte hält er inne, dann fährt er seine Runden weiter um den Schwarm. Nach Bach kommt der Vorsitzende des Nabu in Berlin zu Wort, zieht ein paar skurrile Vergleiche zwischen Feldlerche und Mensch (genauer gesagt Frauen – ebenso wie diesen ginge es den Lerchen um Immobilien-besitzende und körperlich potente Männchen). Das Wichtigste aber: Er stellt die Feldlerchen (Männchen wie Weibchen) als besonders improvisationsbegabte SängerInnen vor – die Männchen zirpten laut und ausdauernd in der Luft, die Weibchen am liebsten im Feld, und etwas leiser. Die Cellisten haben sich direkt vor deren Flugwand postiert, wo das Gras bereits hüfthoch steht und auf keinen Fall niedergetrampelt werden darf.

Plötzlich singt sie wirklich, die Lerche. Ganz hoch oben im Diskant, zunächst zart, dann immer bestimmter. Nicht eine, nein, ein ganzer Schwarm stimmt nun mit ein, tirilliert und zirpt, schleudert unbekümmert seine mikrotonalen Kaskaden den kratzenden Cello-Bögen entgegen und mischt den satten Sound von Somewhere Over the Rainbow mit rhythmischen Verschiebungen und erfrischenden Dissonanzen auf. Für einen kurzen Moment vergesse ich alle gezückten Iphones um mich herum und habe die perfekt austarierten Lautsprecherboxen des rsb ausgeblendet. Der Lerchenschwarm zeigt mit seinem beeindruckenden Solo, was wir mit diesem Vogel vermissen würden.

Antonia Munding schreibt unter anderem für Oper! das Magazin

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