Der Wirtschaftskrieg und der Wirtschaftsminister

Bundesregierung Ein Sanktionsregime, das mehr Verheerungen im eigenem Land auslöst, als beim Gegner, ist eine gute Idee, weil es das moralisch Richtige ist, findet die Regierung.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Wer sich seine fünf Sinne bewahrt und sich nicht dem Hobby moralischen Aufplusterns hingibt, sondern vor dem empört Sein – wofür es gute Gründe gibt – dem Denken den Vortritt lässt, der dürfte zu einem anderen Ergebnis kommen.

Fassungslosigkeit gegenüber einer politischen Klasse, die bar jeder Expertise sich dafür alternativ mit Moral so vollgefressen hat, dass jeder Gedanke an Politik, also das Bemühen um Interessensvertretung und Interessensausgleich und um Lösungen als Gottseibeiuns gilt, dürfte das Mindeste an Reaktion sein.

Die Idee von Realpolitik soll mittlerweile einer perversen Vorstellung aus längst vergangenen Zeiten gleichen, als Pflege und Hege von gut nachbarschaftlichen Beziehung auch dann noch als richtig galt, als die Sowjetunion und die Länder, die jetzt mit uns mindestens in der EU vereint sind, es für richtig befanden den Prager Frühling nieder zu meucheln.

Aber davon muss man gar nicht anfangen. Es würde momentan vollständig reichen, wenn man sich darüber einig wäre, dass man sich – wenn man sich zum Büttel macht – es zumindest für die eigenen Interessen und nicht für eine Weltmacht im Abstieg tut, deren Interessen in der Ukraine auch sehr viel mit dem Interesse zu tun hat, die EU als politischen Machtfaktor soweit zu schwächen, dass der Gedanke an Konkurrenz mit den USA gar nicht erst aufkommen mag und die wegen einer späteren, weiter verstärkten Konfrontation mit China, ein vitales Interesse an der Schwächung möglicher chinesischer Verbündeter hat. Aber auch das soll keine Rolle spielen, man muss diese Sichtweise nicht teilen, ja man kann ruhig eine gegenteilige haben und muss gleichwohl ob der EUropäischen Haltung in diesem Konflikt verzweifeln, denn die Rohstoff- und Energieabhängigkeit von Russland hebt sich nicht auf, weil man aus einer selektiven Moral ableitet, dass das aktive Ignorieren eigener Interessen ein Imperativ sei, den der russische Angriffskrieg einem unhinterfragbar aufzwingen würde.

Dabei zugleich wohl differenzierend, zwischen den Interessen des Volkes und der energieversorgenden Industrie. Für Letztere wurde perspektivisch sofort per Griff in die Taschen der Bevölkerung finanzielle Rettung organisiert. Dabei durch das Wirtschaftsministerium geplant, dass man klotzen und nicht kleckern dürfe, wohlwollend in Kauf nehmend, dass auch Profiteure der durch diese Regierung organisierte Krise noch zusätzlich mit einer allgemeinen Gasumlage profitsubventioniert würden. Das ist schon tolldreist, aber nicht weniger, als der Wirtschaftskrieg gegen den Energielieferanten, auf dem unser Wohlstandsmodell just im Moment und auch absehbar noch eine Weile beruhen wird.

Man mag das ja falsch finden, aber es lässt sich nicht durch unergiebige Wallfahrten nach Katar und Kanada ungeschehen machen. Es ist eine der Bedingungen europäischer und deutscher Politik. Man mag sich einig oder uneinig sein, ob Putin nur ein Despot oder gleich ein Widergänger Hitlers ist. Völlig egal, die harten ökonomischen Fakten verändern sich dadurch frühestens mittelfristig.

Anfang der Woche – am 22.08.2022 - hat der belgische Premierminister Alexander De Croo gegenüber dem belgischen Fernsehsender Vlaamse Radio- en Televisieomroeporganisatie (VRT) erklärt, dass die nächsten fünf bis zehn Winter schwierig sein werden. Dabei ist die Abhängigkeit in Belgien mit unter 7 Prozent von russischen Erdgas eher gering, aber natürlich wirkt sich die Situation auf Belgien massiv aus. Die Perspektive von bis zu 10 Jahren verdeutlicht zumindest mal die Dimension, die man hier gerne hinter einer Nebelwand aus Solidaritätsschwüren und Betonung des eigenen Gutseins zum Verschwinden bringen möchte.

Dabei liegen wir hier bei einer Abhängigkeit von um und bei 50 Prozent (lt. Berliner Morgenpost vom 18.08.2022 war diese 2021 in Deutschland bei rd. 55 Prozent und soll seitdem um gut 10 Prozent gesunken sein). Das wusste man. Immer wieder gab es hierüber Debatten, sei es ob der zu erwartenden Konflikte mit Russland, oder dessen innerer Verfasstheit, die von Kräften wie dem Zentrum Liberale Moderne, Teilen der Heinrich Böll Stiftung, CDU-Kreise um Norbert Röttgen usw. mit dem Ziel der Verhinderung von Nord Stream 2 und einer Stoßrichtung Richtung SPD und vorneweg gegen Manuela Schwesig geführt wurden. Keiner kann also behaupten, er oder sie hätten nicht gewusst, in welcher essentiellen Abhängigkeit wir auch von Russland sind.

Hier lag die Sache weniger kompliziert, als bei den Verflechtungen unseres heimischen Gasmarktes, von den Robert Habeck im Rahmen einer Rede vor dem Westfälischen Unternehmertag in Münster am Donnerstagabend - 25. August – sagte: „Weil wir aber nicht wussten, das muss man ehrlicherweise sagen - und niemand wusste das -, wie dieser Gasmarkt verflochten ist, wie er im Undurchsichtigen, welche Firmen irgendwelche Anteile an Töchtern und so weiter haben“ (Finanznachrichten, 26.08.2022). Der gleich Habeck ließ sich laut Zeit vom 11.03.2022 so vernehmen: „Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sieht die deutsche Energieversorgung für die nächste Zeit gesichert. ‚Die Vorräte sind da‘, sagte der Grünen-Politiker am Freitag in Kiel. ‚Wir kommen durch diesen Winter durch, und zwar, weil wir seit Dezember angefangen haben, politisch zu handeln.‘ Die Bundesregierung habe mit staatlichen Geldern und mit politischen Gesprächen dafür Sorge getragen, dass die Gasspeicher, die auf niedrigem Stand waren, nicht komplett leerlaufen. ‚Die Kohlevorräte an den Kraftwerken reichen ebenfalls bis in den Sommer‘."

Langsam aber bricht sich in Berlin, wo im Dezember begonnen wurde politisch zu handeln (Habeck) – was immer das heißen mag -, die Erkenntnis Bahn, dass die Transformation des Energiesektors weder eine Sache von Monaten noch von wenigen Jahren sein wird. Dabei ist durch die massiven Sanktionen gegen Russland, die durchaus und ohne jede Übertreibung als Wirtschaftskrieg bezeichnet werden können, durch nichts sichergestellt, dass Gasprom nicht die Lieferungen via Nordstream 1 vollständig einstellen wird.

Apropos Nordstream. Was wenige wissen, der Konzern, der die geniale Idee der Gaspreisanpassungsverordnung bei den Politikgrößen der Berliner Regierungskoalition auslöste (weil dieser u.a. die Stadtwerke mit Gas versorgt), statt dessen Verstaatlichung zu besorgen, Uniper, hat allein dieses Jahr 2,7 Mrd. EUR für Nord Stream 2 abschreiben müssen. Trotz sich am Horizont abzeichnender Hilfsaktionen der Umverteilung von den Gaskunden zu Uniper, ist der Kurs der Aktie auf einem historischen Tiefstand. Grund ist die Verunsicherung über die Politik von EU und Deutschland in Bezug auf Russland. Einerseits wird von dort die Erzählung vom wahnsinnigen Putin bedient und andererseits wird so getan, als sei Russland ein Baum, den man ohne jedes Risiko anbellen könne. Kein Wunder, dass der Uniper Aktienkurs von > 40 EUR vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auf mittlerweile < 6 EUR gefallen ist und dabei immer noch Luft nach unter aufweist.

Man müsste „nur“ und zwar aus puren Eigeninteresse das Nord Stream 2 Projekt wieder aufnehmen und gemeinsam mit Russland erklären, dass bei Wahrung aller sonstigen Differenzen, die Energielieferungen Russlands nach Europa und das sollte Finnland miteinschließen, die bislang 70 Prozent ihres Gases aus Russland beziehen, aus diesem Konflikt ausgeklammert werden. Man weiß im Moment zwar nicht wie Russland darauf reagieren würde, aber immerhin würden damit Investitionen in Höhe eines zweistelligen Milliardenbetrages (EUR) gesichert. Außerdem hatte Putin bei seinem Treffen im Iran mit Recep Tayyip Erdoğan und Ibrahim Raisi am Rande des Gipfels auf die Möglichkeit der Öffnung von Nord Stream 2 selbst hingewiesen (BZ, Putin bringt Nord Stream 2 ins Spiel:, 20.07.2022). Allerdings hatte Biden beim Antrittsbesuch des Kanzlers Anfang Februar in Washington erklärt gehabt: Wenn Russland einmarschiert - also Panzer oder Truppen die Grenze zur Ukraine überschreiten - dann wird es Nord Stream 2 nicht mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen“ und auf die Frage, wie er dieses Versprechen einhalten werde? sagte Biden nur: "Ich verspreche Ihnen, dass wir in der Lage sein werden, es zu tun" (NBC News, 07.02.2022). Es könnte also sein, dass hier ein von der deutschen Regierung unüberwindbares Hindernis gesehen wird.

Allerdings ersparte man sich in Deutschland damit eine unsinnige Umlage, die zudem nicht gegen die Gier von profitablen Energiekonzernen abgesichert ist, weil nicht die drohende Insolvenz die Zugriffsgrundlage konstituieren soll, sondern ein partieller Ausfall an Gaslieferungen von Gasprom.

An dieser Stelle sei noch einmal eine Schaltung in den Westfälischen Unternehmertag in Münster am 25. August gestattet: Habeck erläutert gerade, warum ein Fehler kein Fehler ist: „(D)urch diese im Prinzip richtige Entscheidung, (ist) ein Problem entstanden, dass sich dann nämlich ein paar Unternehmen reingedrängt haben, die nun wirklich viel Geld verdient haben und die Umlage der Bevölkerung nicht brauchen. Sie haben einen Rechtsanspruch aus den genannten Gründen, die Gleichheit vor dem Gesetz. Ich kriege auch Kindergeld, weil ich Kinder habe, Gleichheit vor dem Gesetz. Ob ich das Kindergeld brauchen würde, ich weiß nicht, ich würde auch so klarkommen mit dem Ministergehalt, aber es gibt eine Gleichheit, das kennen Sie, das Prinzip. Und beim Kindergeld ist es übrigens gar nicht gleich, sondern die höheren Einkommensbezieher, das wissen Sie auch, bekommen eine Steuergutschrift oder einen Steuerfreibetrag, der noch höher ist. Darauf wollte ich aber gar nicht hinaus“.

Was der Politikerklärer Habeck scheinbar nicht weiß: es gibt Leistungen des Staates, die bekommt man nur unter der Voraussetzung der Bedürftigkeit, wie zum Beispiel ALG II, Wohngeld usw. Auch wirtschaftliche Hilfen könnte man an eine Bedingung des Nachweises der Bedürftigkeit koppeln oder Unternehmen zur Rückzahlung verpflichten, wenn z.B. ihre Steuererklärung der nächsten fünf Jahre einen Gewinn aufweist.

Besonders niedlich ist in diesem Zusammenhang, wie ein Stichwort „der Gleichheit vor dem Gesetz“ [Art. 3 (1) GG] verfängt. Exemplarisch war das bei einem Interview von Dunja Hayali mit der SPD-Vorsitzenden zu beobachten. In dem Gespräch, das am 26.08. im ZDF-Morgenmagazin geführt wurde, musste sich Saskia Esken immer wieder die „Gleichheit vor dem Gesetz“ vorhalten lassen. Statt das Argument auf seinen korrekten Kern zurück zu führen, hat sie dann – wie in anderen Zusammenhängen auch Kevin Kühnert und andere – betont, dass das Ziel der Gaspreisanpassungsverordnung, wie im Kabinett verabredet, sei Schutz der Verbraucher und Sicherheit der Versorgung zu gewährleisten und die korrekte Umsetzung liege im Ressort des Wirtschaftsministers.

Tatsache bleibt, dass es diese Bundesregierung war, die mit der Versorgungssicherheit des Landes fahrlässig gespielt hat und von diesem Vorhaben offenbar auch nicht ablassen möchte und dabei lieber die Bürger zusätzlich belastet und mit persönlichen Verhaltenstipps auf die Schippe nimmt (Waschlappen, Lauwarmduschen). Noch könnte Zeit sein, dieses Verrennen in eine immer enger werdende Sackgasse zu beenden.

Moralische Empörung mag den und die Einzelne(n) erhitzen, heizen kann man damit nicht und die damit verbundene innere Erleuchtung bringt auch keine Lampen zum Strahlen. Will man im Übrigen den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg unterstützen, so wäre es gut, das nicht auf Kosten einer mittlerweile in großen Teilen verarmten Bevölkerung tun zu müssen.

Auch der Staat könnte enorm sparen. Um die Dimension zu veranschaulichen. Die Bundesregierung will/wollte(?) mit der Gasumlage (gemeint ist die am 9. August 2022 in Kraft getretene Gaspreisanpassungsverordnung) ab 1. Oktober d.J. 2,419 Ct/kWh abräumen, was einem Gesamtumfang von 34 Mrd. Euro p.a. entspricht. Zugleich hat die Bundesregierung als Entlastung eine Reduktion der Mehrwertsteuer um 12 Prozent auf 7 Prozent für die Laufzeit der Gasumlage angekündigt. Macht für Neukunden, die momentan bei einem Preis von 31,4 Cent einsteigen, ein „gutes Geschäft“(+1,368 Cent p. kWh), für Altkunden passiert aber gerade das Gegenteil. Vor einem Jahr stieg man als Neukunde bei 5,8 Cent ein und der Verlust betrüge p. kWh -1,704 Cent und bei angenommenen doppelten Preis immer noch -1,008 Cent (Basisdaten: NDR, Gaspreis aktuell: So viel kostet die Kilowattstunde, Stand: 27.08.2022 08:30 Uhr). Nur nebenbei und beiläufig sei erwähnt, dass die Organisierung der Gasumlage bei Trading Hub Europe GmbH (THE) liegen wird, die zur Deckung der Kosten zusätzlich eine Speicherumlage erheben wird.

Wir haben es bereits jetzt mit einer Versechsfachung des Gaspreises zu tun und das in einer Situation, wo es gar keine Gasknappheit, sondern nur Mengenreduktionen bei der gelieferten Mengen durch Gasprom gibt.

Durch die richtige Umstellung auf Sonne und Wind, als gewünschte Basisversorgung mit Strom, haben wir zugleich mehr Gaskraftwerke gebaut (auch aus Kostengründen). Anders als Volllastkraftwerke, kann man diese bedarfsweise betreiben und so die negativen Spitzen bei Fotovoltaik und Windenergie glätten. Also gibt es auch im Strommarkt einen direkten Zusammenhang, abgesehen von dem, der sich durch die Leistungsmessung bereits erschließt. Am Ende handelt es sich um Energie. Allerdings mit qualitativen Unterschieden bei der Umwandlung in die jeweils gewünschte Endenergie. Das muss uns hier nicht weiter interessieren, nur so viel, dass wenn Gas einen Preis von 0,34 EUR/kWh erzielen kann, dann steht der Strompreis dahinter garantiert nicht zurück (insofern wird sich die Bevorratung mit elektrisch betriebenen Heizlüfter am Ende nicht gelohnt haben).

Der Sommer geht gerade auf Abschiedstour und man muss keine Meisterin der Vorhersage sein, um vorauszusehen, dass die Preise noch an Fahrt aufnehmen werden. Egal ob die Regierung die kaufkräftige Nachfrage durch Entlastungspakete (Erweiterung des Kreises der Wohngeldbezieher wurde gerade vom Bundeskanzler angekündigt/27.08.2022) zu stärken versucht oder nicht, die Folge werden massive Einbrüche bei der konsumtiven Nachfrage sein. Die Binnenkonjunktur wird gleich der im Außenhandel auf Talfahrt gehen und zugleich werden die Preise zwangsläufig zunehmen, denn in jedem Handelsgut steckt nicht nur menschliche Arbeitskraft, sondern auch gebundene Energie aus Elektrizität und/oder Wärme und ggf. zusätzlich auch aus Gas gewonnener Kohlenstoff.

Von den Folgen für die Euro-Stabilität reden wir lieber nicht. Wer sich klar macht, dass die Folgen der (zum Teil) EU-hausgemachten Krise in Nordamerika nicht auftreten, der kann sich ja einmal überlegen, welchen Einfluss das auf Geldströme hat und haben wird.

Auch über die Verheerungen, die das im Verhältnis von Bürgern und Bürgerinnen zur Repräsentation haben wird, möchte man nicht nachdenken. Zwar stimmt es, dass es die Bürger waren, die mit heißen Herzen dem Russenhitler Tod und Pest an den Hals gewünscht haben und denen keine Sanktion und keine Waffenlieferung – jedenfalls in ihrer Mehrheit – zu gewaltig sein konnte, aber so ist der Deal nicht.

Das Volk wählt für eine Wahlperiode ihre Volksvertreter und verlangt in einer repräsentativen Demokratie damit auch Schutz vor sich selbst. Erwartet, dass seine Impulse eben nicht die der politischen Repräsentanten sind, sondern dass von hier die Einsicht in die Komplexität der Verhältnisse eingebracht wird und dass vor allem seine Interessen vertreten werden.

Es darf schon einmal vorsichtig angenommen werden, dass es in der Geschichte der jungen Bundesrepublik kaum mehr Staatsversagen und damit Versagen der staatstragenden Parteien gegeben haben dürfte, als in der aktuellen Krise. Aber auch das gehört zur Wahrheit dazu, die Instrumente der vielbeschworenen Zivilgesellschaft haben ebenfalls schmählich versagt. Ganz vorneweg eine Medienberichterstattung, die sich selbst in eine unkritische und falsch verstandene Ukraine-Solidarität hineinbefohlen hat, in der sich die Substanz der Solidarität einerseits entmaterialisiert hat und jeder Hinweis auf materielle Interessen bereits als Relativierung einer Haltung gegen den russischen Krieg gegen die Ukraine galt. Andererseits besteht die Solidarität in großen Teilen aus der Lieferung von allem, was es braucht um Krieg führen zu können. Die Idee, dass man aktuelle bewaffnete Konflikte nicht zusätzlich durch Waffenlieferungen befeuert, wurde durch die gegenteilige Idee abgelöst: Frieden schaffen, mit immer mehr Waffen. Eine Idee, die um so rationaler wäre, je mehr die Konfliktparteien auf ähnlichem Niveau militärischer Stärke agierten und nicht eine der Beteiligten Atommacht wäre.

Wie auch immer. Noch gibt es die Möglichkeit des geordneten Rückzugs aus einem vermeintlich die ukrainische Abwehr stabilisierenden Wirtschaftskrieg gegen Russland, den man vor allem deswegen gut fand oder findet, weil man dadurch seinen Anteil zum Kampf beiträgt, den die ukrainische Armee kämpfend und sterbend allein in ihrem Land austrägt.

Zwar gibt es keine Garantien, dass Russland gleich der früheren Sowjetunion Verträge erfüllt, die wir lange Zeit nicht erfüllen wollten, aber einen Versuch ist es wert. In diesem Zusammenhang ist auch zu begrüßen, dass Politiker wie Kubicki (FDP) die Öffnung von Nord Stream 2 – gleich Lafontaine - ins Gespräch brachten. Die Reaktionen von Riesenstaatsmännern wie Nils Schmid (gescheiterte SPD-Hoffnung aus Ba-Wü): "Einmal mehr übernimmt Herr Kubicki die russische Propaganda und macht sich zum Handlanger Putins"(HA, 19.08.2022), beweist eigentlich sehr gut, dass man genau in diese Richtung gehen muss, solange das noch ohne den Anschein einer vollständigen Kapitulation vor den Realitäten möglich ist, die Russland ja in der Hand hätte. Deswegen sagt die SPD-Geistesgröße in diesem Zusammenhang ja auch, dass wir „(d)iesen politischen Erpressungsversuch (..) nicht auch noch unterstützen (sollten)“ (Twitterposting, 19.08.2022).

Das ist das Lieblingsargument gegen Realpolitik, dass man sich keiner Erpressung beugen sollte. Doch soll man. Bevor man die europäische Bevölkerung in Geiselhaft nimmt, die nicht ausgestattet mit den finanziellen Vorzügen des ehem. baden-württembergischen Finanz- und Wirtschaftsministers und jetzigen Bundestagsabgeordneten ist, sollte man den wahrscheinlichen Eskalationsprozess sich aufschaukelnder Sanktionen in Hinblick auf die Reflexionen auf das eigene Land und die EU genau bestimmt haben.

Erst danach macht eine Debatte überhaupt Sinn. Aber das ist genau nicht gewollt. Jedenfalls nicht von einer Politikertruppe, denen die eigene moralische Aufwallung ganz neue Erfahrungen vermitteln und die glauben, dass ihnen der Atem der Geschichte den Nacken gewärmt hat. Dabei waren das die Vorboten der globalen Erderwärmung, die völlig unabhängig von Einzelinteressen, um die es hier bislang ging, einen wirklichen Imperativ setzten, den der zwingenden globalen Kooperation, statt ihres Gegenteils.

Alles vergessen? Scheinbar ja, wenn die Empörung einen nicht nur atemlos macht, sondern einen auch in archaische Reaktionsmuster zurückfallen lässt

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden