Wir müssen das schaffen

Geflüchtete/Integration Die Vortragssreihe "Wir schaffen das?!" an der FH Dortmund nahm sich der Geflüchtetenpolitik an. Nach wissenschaftlicher Betrachtung folgte ein Blick in die Praxis

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Das Dietrich-Keuning-Haus (DKH) ist das größte Stadtteilkulturzentrum und die größte Begegnungsstätte Dortmunds. Als im September 2015 die vielen geflüchteten Menschen nach Dortmund kamen, entwickelte sich das DKH in Kooperation mit Freiwilligen, Wohlfahrtsverbänden, Feuerwehr, Polizei, Katastrophenschutz und Technischen Hilfswerk (THW) zur Zentrale für die Versorgung von insgesamt 8000 Geflüchteten. In seinem Referat zum Abschluss der von Prof. Dr. Ahmet Toprak initiierten Vortragsreihe „Wir schaffen das?!“ hat vergangenen Dienstag der Programmleiter und stellvertretende Geschäftsbereichsleiter des DKH, Levent Arslan, über seine Erfahrungen aus der Zeit des Diktums der Bundeskanzlerin - „Wir schaffen das“ - gesprochen. Zudem sollte die Frage erörtert werden, was denn „gelingende und misslingende Integrationsfaktoren im Rahmen der aktuellen Flüchtlingszuwanderung“ sind.

Der alarmierende Telefonanruf erreichte Levent Arslan zuhause auf der Couch

Dass Züge mit Geflüchteten, welche Tage am Budapester Bahnhof Keleti hatten campieren müssen nach Dortmund kommen würden, erfuhr Levent Arslan am Abend des 5. September 2015 daheim auf der Couch. Der alarmierende Anruf kam vom Dietrich-Keuning-Haus. Dieses, hieß es, sei als Verteilzentrum ausgewählt worden. Arslan fuhr unverzüglich dorthin. Ein kleines Team wurde aufgestellt und die Lage beraten. Die einzelnen Mitglieder riefen Menschen an und zusammen, welche unterschiedlicher Sprachen mächtig waren. Rasch fanden sich über die sozialen Netzwerke Menschen zusammen, die zum Dortmunder Hauptbahnhof strömten, um ihre Hilfe anzubieten.

Ein Blick auf die Praxis

Levent Arslan schickte sich an, den vorangegangenen aus wissenschaftlicher Sicht heraus zuvor gehaltenen Vorträgen der Reihe ein Blick aus seiner Brille auf die Praxis hinzufügen. Dazu hatte er eigens Vortragsmaterial erarbeitet, das projiziert wurde. Was Migration für Betroffene bedeutet, weiß Arslan aus der eigenen Familiengeschichte: Seine Eltern gehören zur ersten Gastarbeitergeneration.

Über 8000 Geflüchtete durchliefen das DKH

Levent Arslan sprach über die gewaltige Zunahme der Arbeitsaufgaben für die damit befassten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Stadtverwaltung, der allein mit der Betreuung von mehreren hundert minderjährigen unbegleiteten Geflüchteten verbunden ist. Von einer Beruhigung der Lage könne nicht gesprochen werden. Von den Ankunftszahlen zwar schon. Jedoch nicht den Arbeitsaufwand betreffend. Zirka 9300 Flüchtlinge seien in Dortmund. Über 6000 davon sind im Asylbewerberleistungsverfahren und kommen aus 68 Nationen. Die Entscheidung des Krisenstabes im September 2015 Geflüchtete in Dortmund aufzunehmen sei, so Arslan, „von heute auf gleich“ erfolgt. Über 8000 Menschen hätten dann das DKH durchlaufen. Sie wurden von vielen Hilfsorganisationen sowie freiwilligen Helfern in Empfang genommen, verpflegt und auch medizinisch betreut. Levent Arslan sprach „von einer gigantischen Welle der Hilfsbereitschaft“, die er erlebte. Alles erfolgte „komplett ungeplant und unkoordiniert“. Die Ordnung der Ämterbürokratie war erst mal außer Kraft. Eine spontan sich findende Ordnung habe den Ansturm dennoch gemeistert. Man habe stetig dazu gelernt und dementsprechend gehandelt. Die betreuten Geflüchtete berichteten – soweit sie sich noch in Dortmund befänden – noch heute positiv über die Zeit damals und seien äußert dankbar für die Hilfe.

Bilder und Videos der Nordstadtblogger erinnerten an die damalige Situation

Levent Arslan zeigte Bilder (Klaus Hartmann) und Videos von der Ankommenssituation am und um den Hauptbahnhof sowie im DKH selbst aus dem September 2015, die seinerzeit die Nordstadtblogger veröffentlicht hatten. Sie bewegen noch heute deren Betrachter. Diese Zeit, meinte Levent Arslan, habe einen sehr geprägt. Ein einschneidendes Erlebnis, wie die Geflüchteten zum Teil in sehr desolatem Zustand in Dortmund angekommen seien. Aber auch, wie herzlich sie von Dortmunderinnen und Dortmundern zum Teil sogar mit selbst gefertigten Plakaten auf Arabisch und mit Applaus begrüßt wurden.

Mit der Zeit fügte sich eins ins andere

Der Verein Train of Hope wurde gegründet, im DKH entstand ein Willkommenscafé – das Café of Hope - für Flüchtlinge (heute noch geöffnet von 10 – 20 Uhr). Es gibt ein spezielles Angebot für Frauen. Mittlerweile gestalten auch die Geflüchteten selbst über ihre Anregungen die Angebote im DKH mit. Der Planerladen in Gestalt von Ali Sirin brachte ein „Speeddating der Kulturen“ aufs Tapet, das umgesetzt werde. So entstand eine Plattform, wo Geflüchtete und mit der hiesigen Gesellschaft ins Gespräch kommen können. Trotz eines Champions-League-Spiels seien damals 60 Menschen gekommen, um mit den Geflüchteten ins Gespräch zu kommen. Dabei käme es allerdings auf Fingerspitzengefühl an. Nicht jeder Flüchtling wolle über seine Fluchtgründe sprechen. Auch wollten viele von ihnen kein Mitleid.

Um was geht es den Geflüchteten am ehesten?

Da wäre die Sicherung des Lebensunterhalts (fast täglich fragten sie nach Arbeit) zu nennen. Schon Arbeitsgelegenheiten oder Praktika seien da höchst willkommen. Dem Staat wollten sie nicht auf der Tasche liegen. Ein weiterer Punkt sei der Wunsch nach einer eigenen Wohnung. Sowie ein möglichst rasches Asylverfahren. Angestrebt werde ein sicherer Aufenthaltsstatus. Der Nachzug enger Familienangehöriger ist ihnen wichtig. Levent Arslan machte es an einem Beispiel deutlich: Da gibt es ein junges Geschwisterpaar. Der Bruder betreut die jüngere Schwester. „Die wünschen sich natürlich, dass die Eltern nachkommen.“ Die warteten in der Türkei darauf herzukommen. Man spüre, welche Last auf dem Bruder laste, der doch sozusagen selbst noch in der Entwicklung sei.

Auch zeigten die Flüchtlinge großes Interesse an Deutschkursen. Für problematisch hält es Levent Arslan, dass es die eigentlich nun nicht mehr für Menschen gibt, die aus sogenannten sicheren Herkunftsländern kommen. Für Behördengänge, die ja schon für viele Deutsche ob der Bürokratie und dem komplizierten Amtsdeutsch nicht einfach zu bewältigen sind, seien Helfer stets willkommen. Ebenso bei Arztbesuchen. Diskriminierungen ob der ausländischen Familiennamen fänden immer wieder auch bei der Wohnungssuche oder bei der Bewerbung um Ausbildungsplätze statt. Viele der angebotenen Wohnungen (besonders im Norden) ermöglichten gerade einmal ein Wohnen niedrigem Niveau. Oft würde auch nach seriösen Religionsgemeinschaften gefragt. Diesbezüglich arbeite man mit dem Dortmunder Rat der muslimischen Gemeinden zusammen.

Integration heißt nicht Assimilation

Levent Arslan war es wichtig, die Begriffe Assimilation und Integration nebeneinander zu stellen. Denn nicht selten würde die beiden Begriffe – manchmal sogar absichtlich - verwechselt beziehungsweise missverstanden. Oft werde in der Gesellschaft unter Integration offenbar verstanden, dass die Minderheit sich der Mehrheit anzupassen habe. Levent Arslan begreift Integration als Anstrengung sowohl der Mehrheitsgesellschaft als auch für die neu Zugewanderten: „Gesellschaftliche Veränderungen können wir nicht aufhalten. Wir können sie aber mitgestalten.“

Angst vor Fremden sei völlig normal. Offenheit und Bereitschaft für ein Miteinander allerdings eine Aufgabe, der sich gestellt werden müsse. Nur über persönliche Begegnungen wäre ein Abbau von Vorurteilen zu erreichen und Miteinander zu erreichen. In puncto Integration müsse, darauf wies Arslan hin, aus den Fehlern der Vergangenheit (Umgang mit den Gastarbeitern) gelernt werden. Aus der Lebensgeschichte seiner eigenen Familie ist ihm klar: „Ohne die Hilfe von Nachbarn hätte es damals ganz düster ausgesehen.“ Vom Staat sei keinerlei Hilfe gekommen.

Elementar findet Levent Arslan die Aufnahme von Geflüchteten in Vereinen, bei der Feuerwehr und in Chören: „Da findet meiner Meinung nach Integration statt.“

Die Geflüchtete könnte so auch über die emanzipatorische Entwicklung in Deutschland – insbesondere die Gleichberechtigung von Mann und Frau – informiert. Denn freilich kämen da Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern zu uns, traditionell ganz andere Vorstellungen von einer Gesellschaft in sich trügen. Über das Verständnis von Demokratie (die auch Minderheiten schützen müsse) müsse aufgeklärt werden. Sowie über die Gewaltenteilung. Integration sei als Daueraufgabe zu begreifen.

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Mit den Eingewanderten – auch das weiß Arslan aus der eignen Familie – entstünde auch eine neue Identität. Die sei dann nicht mehr Griechisch, Türkisch oder Italienisch. Und auch nicht mehr Deutsch. „Es setzt sich eine neue Identität durch.“ Wir müssten das akzeptieren. Weil es gar nicht mehr zu verhindern sei. Arlsan: „Es entstehen sozusagen neue Deutsche.“ In Dortmund – immer schon mit Einwanderung konfrontiert - geschehe dies gewissermaßen beispielhaft.

Integration gelinge über aufrichtige Anerkennung der Menschen, so das Fazit von Arslan, sowie indem wir wirkliche Teilhabe ermöglichten. Akzeptanz, Toleranz und Respekt allein genügten nicht. Es gehe um gleichberechtigte Chancen. Der Referent schloss: „Auf Basis des Grundgesetzes sage ich, die Würde des Menschen ist unantastbar und ich setze in Klammern hinzu: Nicht einer bestimmten Kultur, einer bestimmten Religion oder Ethnie – sondern des Menschen. Daher genössen alle Menschen die gleichen Rechte und den gleichen Schutz.

Fragen und Kritik

In der anschließenden Fragerunde wurde offenbar, dass niederschwellige Deutschkurse sehr gefragt sind. Leider seien diese wie Integrationskurse, so Arslan, zusammengekürzt oder abgeschafft worden (Stichwort: sichere Herkunftsstaaten). Auch kam zutage, dass in der Anfangszeit des DKH als Ankunftszentrum für Geflüchtete Rechtsanwälte und Versicherungsvertreter und Verkäufer von Telefonverträgen versuchten ihren Schnitt zu machen. Levent Arslan antwortete, da habe man schon einmal Hausverbote aussprechen müssen. Jegliche Hilfe müsse kostenlos erfolgen.

Ein Hörer kritisierte den mangelnde Personalausstattung betreffs der Geflüchtetenhilfe. Aber alle schmückten sich mit den Arbeitsergebnisse der damit betrauten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die zuvor Ali Sirin - auch was die Ehrenamtlichen anbelangt - als wirklich „grandios“ bezeichnet hatte. Die Personalpolitik der Stadt bezeichnete besagter Hörer als „ein Witz“. Levent Arslan stimmte in der Sache zu. Aus seiner Kindheit wisse er, dass früher viel mehr Leute dort und auch am DKH gearbeitet haben. Das betreffe die ganze Kommune. Jede Hilfe sei willkommen. Gerade Springer seien gefragt. Gewiss träten auch unter den Geflüchteten Probleme auf. Man arbeite mit einem Antiaggressionstraining an.

Problem nur verschoben, aber nicht aufgehoben

Ein anderer Hörer wies daraufhin, dass mittlerweile weniger Geflüchtete kämen und infolgedessen Aufnahmelager wieder schlössen. Levent Arslan gab zu bedenken, die Probleme seien nur verschoben aber nicht aufgehoben. Seit zehn Jahren mache nun schon die Bürgermeisterin von Lampedusa auf die verheerende Situation aufmerksam. Ohne das sich Fundamentales getan habe. Es werde irgendwann auch die EU-Länder treffen, die sich jetzt zurückhielten. Ahmet Toprak sieht eine weitere Welle auf uns zu laufen. Und von Mauern hält er auch nichts. „Wer Mauern baut, mauert sich selbst ein.“

Im Keuninghaus, informierte dann noch Levent Arslan über den Stand der Dinge, finde nunmehr eine „erhaltende Willkommenskultur“. Das Café habe nach wie vor von 10 bis 20 Uhr geöffnet. Außer Helfern, bedauerte er, kämen leider nur wenig Deutsche ins Haus.

Wer soll das schaffen, wenn nicht wir?“

In seiner Eröffnungsrede hatte Prof. Dr. Helmut Hachul, Prorektor der FH Dortmund, betonte, dass es trügerisch sei, auf Rezepte a´ la Trump, sich die Flüchtlinge vom Leib zu halten sei, zu vertrauen. Das Ruhrgebiet habe große Erfahrungen in Sachen Einwanderung und der Aufnahme von Gastarbeitern. So sei es quasi auch dazu prädestiniert und auch in der Lage in der Geflüchtetenproblematik eine weitere kulturgeschichtliche Leistung zu vollbringen. Flüchtlingen zu helfen, das sei schon eine Verpflichtung aus unserer Geschichte. „Wer“, fragte Hachul, „soll das schaffen, wenn nicht wir?“ Mit der Hilfe für Geflüchtete hülfen wir uns auch selbst.

Auch Martin Loberg von der Auslandsgesellschaft NRW e.V. zeigte sich in seinem Grußwort optimistisch, dass man die Situation letzlich meistern werden. Er habe sich damals im September 2015 gefreut, wie herzlich man den Geflüchteten umgangen sei.

Mit dieser Veranstaltung ist die Vortragsreihe „Wir schaffen das?!“ an der FH Dortmund beendet. Der aus Krankheitsgründen entfallene Vortrag von Prof. Dr. Zick wird voraussichtlich im Sommersemester 2017 nachgeholt.

Hier und hier noch einmal Berichte zu den vorangegangenen Vorträgen dieser Reihe.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

asansörpress35