Endlich wieder Pathos

Bayreuth Skandale gehören bei den Wagner-Festspielen zum Geschäft, doch der große bleibt zunächst aus: Den Auftakt macht eine „Tristan und Isolde“-Inszenierung zum Wohlfühlen
Ausgabe 30/2022

Alles ist ein bisschen retro in Bayreuth: Am Fuße des Grünen Hügels stehen zwei Demonstranten-Gruppen. Es wird nicht richtig klar, wer die „Linken“ und wer die „Rechten“ sind – beide beschimpfen sich gegenseitig als „Nazis“. Und beide sind offensichtlich: gegen Angela Merkel. Das ist keine Inszenierung von Regisseur Tobias Kratzer, kein Theater, sondern unsere wirkliche Wirklichkeit. Angela Merkel ist zwar nicht mehr deutsche Kanzlerin, pilgert aber trotzdem weiter nach Bayreuth. Und so ist bei den Richard-Wagner-Festspielen alles wie immer: Thomas Gottschalk, einige Schlagergrößen, Markus Söder und natürlich Claudia Roth haben es sich in der Promi-Loge gemütlich gemacht und sind die Einzigen, die Wasserflaschen mit ins Festspielhaus nehmen dürfen, die dann auch regelmäßig, besonders gern an den leisen Stellen, auf den Holzboden purzeln.

Lauter Regie-Reminiszenzen

Schönheit steht bei Regisseur Roland Schwab im Vordergrund, das Transzendieren, die Bewegungslosigkeit im Angesicht der Musik. Die Grundkonstellation für das Liebesepos Tristan und Isolde ist bei ihm eine runde LED-Scheibe auf dem Boden. Mal ist sie stilles Wasser, mal gaukelt sie Tiefe vor, mal wird sie zum Blutbad und schließlich zum immer schneller kreisenden Sternen-Kosmos. Überhaupt hat Bühnenbildner Piero Vinciguerra einige Bayreuther Wagner-Regie-Reminiszenzen versteckt: Die Tristan-Scheibe ähnelt der Ring-Scheibe von Wieland Wagner, der grüne Baum, der im dritten Aufzug aus dem Decken-Oval wuchert, erinnert an den Liebesbaum von Regisseur Jean-Pierre Ponnelle, und die Leuchtstäbe, die Tristan am Ende des zweiten Aufzugs durchbohren, stilisieren die Neonröhren von Christoph Marthaler.

Durch dieses überästhetische Universum lässt Schwab Wagners Charaktere fünf Stunden lang mal mehr und mal weniger motiviert wandern, gleichzeitig symbolisieren die Aufzüge für ihn die Lebensalter der Liebe: Zwei Kinder erscheinen zur Ouvertüre, zwei Jugendliche beobachten den zweiten Aufzug und zu Isoldes Liebestod stolpert ein Greisenpaar zur Bühnenrampe, schaut sich verliebt in die Augen. Und: black. Jedes Denken wird hier von Schönheit vertrieben, dem Publikum gefällt’s. Nach Pandemie und Ukraine-Krieg, so scheint es, haben wir uns einen Wohlfühl-Tristan verdient.

Den Skandal hebt sich Bayreuth-Intendantin Katharina Wagner wohl für den bereits jetzt auf den Namen „Netflix-Ring“ getauften Zyklus von Valentin Schwarz auf. Wobei Skandale natürlich auch zum alljährlichen Bayreuther Vorgeplänkel gehören. Fast schien es, als neide man in Franken den Salzburgern ihren Skandal um den Dirigenten Teodor Currentzis und seine Russland-Verstrickungen. Also wurde am Grünen Hügel schnell ein eigener gestrickt: „Sexuelle Übergriffe und unangemessener Umgangston“ polterte die Lokalzeitung. Wenn man genau hinschaut, bleibt davon allerdings wenig übrig. Die zwei Frauen, die sich in der Zeitung beschwert haben, dass es Übergriffe im Festspielhaus und per SMS gab, haben sich bislang nicht bei der Leitung gemeldet – weder bei Katharina Wagner noch mittels eines der extra aufgestellten, anonymen „Postkästen“. Die Übergriffe auf Katharina Wagner liegen schon einige Jahre zurück, und sie selber sagt, sie habe das auf „fränkische Art“ geklärt. Auch was man dem Dirigenten Christian Thielemann vorwirft – er soll sich beschwert haben, dass zwei Frauen am Bass spielen, eine würde genügen –, war vielleicht blöde formuliert, ist aber fern von einem Skandal.

Wesentlich handfester, rauschhafter, verzweifelter und vor allen Dingen ambivalenter ist die Auseinandersetzung des eigentlichen Matchwinners des Abends, des Dirigenten Markus Poschner, mit dem Thema Liebe. Angetreten als „Einspringer“ für Cornelius Meister, der kurzfristig das Dirigat des Rings übernehmen musste, lieferte er ein kleines Meisterstück ab. Die akustischen Tücken des Bayreuther Festspielgrabens, der zum großen Teil unter der Bühne liegt, schienen ihm gar keine Probleme zu bereiten. Poschner musizierte nicht als Aushilfe, sondern als Profi mit gutem Konzept. Er ist schon einmal mit dem Bayreuther Festspiel-Orchester in Abu Dhabi gewesen und hatte den Tristan gerade zu Hause, beim Brucknerorchester in Linz, auf dem Pult liegen. Er organisierte einen fast fünfstündigen Rausch, in dem es ihm gelang, immer wieder Zwischentöne aufblitzen zu lassen. Zuweilen schien es sogar so, als wären die Nebensächlichkeiten der eigentliche Anker von Poschners Musik-Architektur: Er liebt es, die Dissonanzen, die Gegenstimmen, das oft Ungehörte nach oben zu holen, eben jene Momente, in denen der Rausch gebrochen, die Melodie torpediert, die Schönheit bekämpft wird. Poschner hat Gespür für das Kollektiv, holt aber immer wieder auch einzelne Stimmen in den Vordergrund.

Auch eine der größten Baustellen der Festspiele ist in den letzten Jahren geschlossen worden. Der Tristan kann auf eine echte Bayreuther Sängerriege zurückgreifen. Allen voran Tenor Stephen Gould, der so kraftvoll daherkommt, dass er allein sowohl Tristan als auch Isolde singen könnte. Eine der wenigen Tenor-Stimmen, bei denen man keine Angst um den letzten Aufzug haben muss. Einer, dessen Stimme so groß und klanggewaltig ist wie lyrisch und sinnlich. Ein typisches Bayreuth-Gewächs. Ebenso wie Catherine Foster. Sie hatte bereits eine fulminante Brünnhilde gesungen, nun zeigt sie als Isolde, welche Kraft in ihr steckt. Einzig ihre Wortunverständlichkeiten, gerade in den langen Passagen des ersten und zweiten Akts, könnten Gegenstand einer Luxus-Kritik sein. Ansonsten hat sie alles, was eine Isolde braucht: Lyrik, Dramatik und Atem bis zum sinnlichen Liebestod, in dem sich ihre Stimme mit dem Welt-Atem vereint.

Niemand fällt in diesem Tristan aus dem hohen musikalischen Niveau. Georg Zeppenfeld, ebenfalls ein Bayreuther Urgestein, steht als König Marke auf der Bühne. Einer, der nicht auf das Pathos drückt, der auch in höchster Emotionalität kühl bleibt, ein König, dem man anhört, dass er vieles mit sich selber ausmacht. Markus Eiche gibt als Tristans Freund einen souveränen, süffigen und spielfreudigen Kurwenal, und die russische Mezzosopranistin Ekaterina Gubanova wird als schlank singende, charismatische Brangäne zum Publikumsliebling. Auch sie hat ihren Durchbruch zum großen Teil Bayreuth zu verdanken. Selbst in den Nebenrollen ist dieser Tristan gut besetzt: Jorge Rodríguez-Norton singt einen lyrischen Hirten, Raimund Nolte einen engagiert klaren Steuermann.

Alle wissen, das ist Kitsch

Als das greise Paar auf der Bühne sich zu den letzten Klängen des Liebestodes anschaut, wissen alle: Das ist gerade unendlich großer Kitsch. Und einige denken auch: Und genau diesen Kitsch und dieses Pathos brauche ich in dieser Zeit.

Am Ende ist alles wie immer. Applaus. Raus in die laue Sommernacht. Die Blaulicht-Fahrzeuge rauschen den Hügel hinunter. Die Demonstranten sind längst abgerückt. Katharina Wagner, die ihren Ensemblemitgliedern nahegelegt hat, nicht am Staatsempfang teilzunehmen, weil noch allerhand Premieren anstehen und Corona weiter grassiert, steht mit Maske neben dem maskenlosen Markus Söder, lobt ihr Ensemble und geht nach Hause.

Bayreuth hat dem von Corona genesenen Opern-Affen mit seiner Eröffnungspremiere allerhand Zucker gegeben. Der Tristan ist etwas für die Masse. Der Ring, so heißt es auf dem Hügel, wird gegensteuern und verlangen, dass dann auch wieder der Kopf eingeschaltet werden muss.

Axel Brüggemann moderiert am 5. August die Kino-Übertragung der Götterdämmerung

Info

Tristan und Isolde Richard Wagner Regie: Roland Schwab, Musikalische Leitung: Markus Poschner, Bayreuther Festspiele

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Geschrieben von

Axel Brüggemann

Journalist und Autor in Wien und Bremen.

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