Ein Buch aus einer anderen Zeit

Buch Heute habe ich Post bekommen. Es roch schon nach alt, als ich das Päckchen öffnete.

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Ich zog ein siffiges Buch aus dem Umschlag, das schon halb auseinander fiel. Ich war gerührt. Mehrfach hatte ich es in Antiquariaten bestellt, nie war es angekommen – jetzt hielt ich es in den Händen.

Zum ersten mal hatte ich von der Autorin gehört, als ich selber mein erstes Buch schrieb – über den US-amerikanischen Folkmusiker Woody Guthrie. Joy Doerflinger war die Lektorin, die wieder dessen erstes Buch, die romanhafte Autobiografie Bound for Glory, auf Trab bracht. Der zerstreute Guthrie produzierte endlos Texte, bekam aber nicht in Griff, sie zu strukturieren. Von Guthries Frau vorsortiert, machte sich Doerflinger, die Frau des Lektors des Verlags E. P. Dutton, William Doerflinger, daran, das Buch für die Leser/innen zugänglich zu machen. Sie musste so viel Arbeit investieren, dass sie 20% der Einnahmen verlangte. Besonders das Ende war so zerfasert, dass sie auf fiktionale Geschichten für die ohnehin wenig authentischen Biografie zurückgriff. Das Buch wurde ein Riesenerfolg – schon in der ersten Woche verkauften sich 10 000 Exemplare und es gilt bis heute als wichtiges Zeitzeugnis von hoher literarischer Qualität.

Doerflinger war noch unter ihrem “Mädchennamen” Homer zwei Jahre zuvor selber als Autorin hervorgetreten – sie hatte ein politisches Buch über das China geschrieben, das sie 1939 bereist hatte, in einer hochinteressanten Zeit: Damals waren nicht nur die kommunistischen Truppen Maos bereits zu einer entscheidende Macht geworden, sondern sie bildeten mit ihrem internen Feind, den bürgerlichen Kuomintang, ein wackelige Einheitsregierung, um den Angriff der japanischen Truppen auf die Nation abzuwehren. Homer reiste trotz der heiklen Lage quer durchs Land und schrieb für ihre US-amerikanisschen Landsleute auf, was sie beobachtet hatte. Damals fand das Buch sehr hohe Anerkennung, weil im Westen wenig bekannt war, was im Fernen Osten passierte – heute ist es ein wichtiges Zeitzeugnis.

Das Buch sollte Doerflingers Vermächtnis werden. Die kluge, adrette bürgerlich Frau, die noch zu Silvester 1943 / 44 mit dem schmuddeligen und schrägen Woody Guthrie und dessen Mitmusiker und Saufkumpan Cisco Houston durch die Kneipen von Manhattan gezogen war, wurde bald schwer krank und verstarb Mitte der 1940er Jahre.

Gern wüßte ich noch viel mehr über das Leben dieser interessanten Frau, die offenbar engagiert, neugierig und zupackend war, und in einer Zeit etwas Besonderes geleistet hat, als es keineswegs normal für eine Frau war, so eine Karriere zu verfolgen. Gern hätte ich sie interviewt, vielleicht hätten wir und gut verstanden und kennengelernt. Jetzt werde ich mich erstmal in ihre Worte und Beobachtungen aus dem China aus einer ebenso fernen Zeit vertiefen, als vieles noch unschuldiger schien und Hoffnung bestand, dass das Gute siegen wird – deshalb Dawn Watch in China, das Beobachten des Sonnenaufgangs im Osten.

Zuerst veröffentlicht auf Wortbetrieb.de

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Popkontext

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