An einer Stelle bespricht eine Runde aus Wissenschaftlern, Politikern und Generälen die möglichen Ziele. Kriegsverteidigungsminister Henry Stimson (James Remar) diskutiert die Liste von zwölf in Frage kommenden japanischen Städten. Von Kyōto, das ganz oben steht, rät er ab, wegen der kulturellen und historischen Bedeutsamkeit. Außerdem hätte er dort seine Flitterwochen verbracht, es sei eine ganz bemerkenswerte Stadt.
Die Szene ist nur eine von vielen in Christopher Nolans Oppenheimer, bei der es einem kalt den Rücken hinunterläuft. Weniger wegen der Kaltschnäuzigkeit der dargestellten Entscheidungsträger als vielmehr angesichts der Zufälligkeit, mit der die Atombombenabwürfe am 6. August auf Hiroshima und am 9. August 19
und am 9. August 1945 auf Nagasaki zustande kamen. In einer späteren Szene, die auch ein Traum sein könnte, hört man Oppenheimer selbst die Überlegung vortragen, dass die Bombe leider zu spät fertig geworden sei – um sie gegen Deutschland einzusetzen.Aber gleichzeitig geht in typisch Nolan’scher Art und Weise zu viel vor in Oppenheimer, um den Schrecken lange nachhallen zu lassen oder zu kontrafaktischen Spekulationen einzuladen. Nolan hat selbst das Drehbuch nach der Vorlage von American Prometheus von Kai Bird und Martin J. Sherwin verfasst. Er stellt den Satz über Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte und dafür an den Fels gefesselt wurde, an den Anfang und erzählt dann in einem zunächst sehr wirren zeitlichen Hin und Her von Oppenheimers Werdegang, vom „Manhattan Project“ und davon, wie aus dem „Vater der Atombombe“ in den 50er Jahren eine Art Märtyrer wurde, dem man zu große Nähe zu den Kommunisten vorwarf und die für seine wissenschaftliche Tätigkeit unabdingbare „Security Clearance“ entzog.Wer sich noch nie mit J. Robert Oppenheimer beschäftigt hat, wird anfangs Schwierigkeiten haben, die Ereignisse einzuordnen, zumal eine gefühlte Hundertschaft von namhaften Schauspielern als mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten ihrer Zeit auftreten. Kenneth Branagh probt einen dänischen Akzent als Niels Bohr, Matthias Schweighöfer spricht als Werner Heisenberg flottes Englisch, Josh Hartnett verkörpert den amerikanischen Nobelpreisträger Ernest Lawrence als gut aussehenden Bedenkenträger. Oppenheimer selbst wird mit geradezu magnetischer Ausstrahlung von Cillian Murphy verkörpert – als Hasardeur und Zweifler zugleich. In der endlosen Folge der gewichtigen Gestalten, die das Geschehen des Films bestimmen, gibt es nur zwei Schauspielerinnen, die mehr als nur zwei Sätze sagen dürfen. Die eine ist Florence Pugh als Jean Tatlock, die langjährige Geliebte Oppenheimers, die sich 1944 selbst umbrachte. Und die andere ist Emily Blunt als Oppenheimers Ehefrau Kitty, die ihr Unglück offenbar mit Alkohol zu ertränken versuchte. Ein Beziehungsmensch scheint Oppenheimer jedenfalls nicht gewesen zu sein.Eingebetteter MedieninhaltNach und nach schälen sich im chronologischen Durcheinander zwei Ankerpunkte der Erzählung heraus: Zum einen ist da die Anhörung im Jahr 1954 über Oppenheimers Sicherheitsbefugnis. In einem engen Raum werden verschiedene Zeugen gehört, die zu seiner Loyalität zu den USA, seinen Sympathien für die Kommunistische Partei – sowohl Jean Tatlock als auch seine Ehefrau Kitty waren Parteimitglieder – und möglichen Verbindungen zur sowjetischen Seite aussagen. Mit dem Gesagten wird in groben Strichen Oppenheimers Werdegang rekapituliert, seine Studienzeit in Harvard mit Stationen in Europa, seine Professur in Berkeley und schließlich seine Ernennung zum Leiter des Manhattan-Projekts.Der andere Ankerpunkt, von dem aus rekapituliert wird, sind die Berufungsverhandlungen um Lewis Strauss (gespielt von einem sagenhaft zwielichtigen Robert Downey Jr.), der 1958 als Secretary of Commerce ins Eisenhower-Kabinett aufrücken soll. Zuerst sieht man da Strauss, wie er sich als großer Oppenheimer-Freund geriert. Doch aus den Rückblicken in die späten 40er und den Beginn der 50er Jahre, in denen Oppenheimer sich widersprüchlich zur Atombombe äußerte – gegenüber Präsident Truman soll er sich beklagt haben, Blut an den Händen zu haben –, ergibt sich allmählich ein anderes Bild. Vor allem kommt die Rolle, die Strauss dabei spielte, Oppenheimer die Sicherheitsbefugnis entziehen zu lassen, mehr und mehr ans Licht.Die vielen Zeitsprünge mögen am Anfang noch wie ein typischer Nolan-Manierismus erscheinen. Aber über die stolze 180-minütige Laufzeit des Films hinweg zeigt sich, dass Nolan dadurch eine Vieldeutigkeit bewahrt, die in der Geschichtsschreibung sonst schnell verlorengeht. Er erzählt vom Bau der Atombombe eben nicht als Heldengeschichte. Wenn man die Menschen in Los Alamos den ersten gelungenen Versuch in der Wüste feiern sieht, sind das mit Zwiespalt aufgeladene Bilder, die überschattet scheinen von dem, was danach kommt, von der Angst vor dem späteren Wettrüsten und einer schlimmeren Katastrophe. Aber die Zweideutigkeit wendet der Film auch in die andere Richtung. Wenn Oppenheimer bei seiner Anhörung Demütigung um Demütigung erleidet, weil unangenehme Dinge aus seinem Privatleben ausgebreitet werden oder enge Wissenschaftlerkollegen sich gegen ihn wenden, deutet sich auch an, dass Oppenheimer diese Herabwürdigung vielleicht als eine Art Buße begrüßt, ja sogar genossen hat.Placeholder infobox-1