In gewisser Weise weilte Torsten Frehse in der vergangenen Woche in Cannes, was dieser Tage natürlich bedeutet: rein virtuell. Der Filmmarkt, der in normalen Jahren im Mai zeitgleich zum berühmten Festival an der Côte d’Azur stattfindet, wurde coronabedingt verschoben und in eine „Online-Edition“ umgewandelt. Sie sollte das „Markterlebnis“ nachbilden, das dieser Branchentreff, einer der größten und wichtigsten weltweit, üblicherweise darstellt. Entsprechend der für ihn bezeichnenden Art, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, fällt auch Frehses Urteil aus: „Virtuell – das ist ein total toter Raum!“ Die Atmosphäre des Festivals, sonst oft als bloßes Beiwerk beschrieben, sei eben ungeheuer wichtig dafür, dass der Markt funktioniert. Ohne Festivalbetrieb falle jenes Grundrauschen weg, jenes „Haste von dem Deal gehört? Haste den Film schon gesehen?“, das neugierig macht und Interesse weckt. Keine Zoom-Konferenz kann das ersetzen. Und so gut das Streamen von Filmen auch funktioniere, es zeige sich eben immer wieder, so Frehse, wie einzigartig das Kino als Ort der Filmrezeption sei – als Ort, der kein Multitasking erlaubt und damit eine ganz andere Konzentration ermöglicht, vom sozialen Erleben ganz zu schweigen.
Frehse, 1973 in Köpenick geboren und aufgewachsen, ist Filmverleiher aus Leidenschaft und Überzeugung. Es ist ein besonderer Beruf und ein wichtiges, aber oft übersehenes Glied in der „Filmverwertungskette“ – wie sich aktuell mal wieder zeigt. Die bislang beschlossenen Corona-Förderungen stützen den Kinobetrieb und die Filmproduktionen; an die wichtigen Vermittler zwischen beiden, die Verleiher, hat man bislang nicht gedacht. Frehse, der mit seinem Verleih Neue Visionen seit 1997 jedes Jahr um die zehn Filme ins Kino bringt, gehört zu den Mittelgroßen der Branche. Er legt Wert darauf, dass er völlig unabhängig agiere, weder einer Produktionsfirma noch einer Kinokette verpflichtet sei: „Jeder Film ist unsere Entscheidung.“
Als ein Indiz dafür, wohin diese Entscheidungen tendieren, lässt sich der rote Stern lesen, der als Emblem die Neuen Visionen schmückt. In Torsten Frehses Arbeitszimmer hängen zwei große Plakate in Schwarzweiß: Das eine zeigt den spanischen Regisseur Luis Buñuel, das andere den deutschen Kommunisten, Verleger und Filmproduzenten Willi Münzenberg. „Meine großen Helden“, sagt Frehse. Und was bedeutet das für den Filmverleih? Die Aufgabe eines Verleihers sei es, einem Film ein Gesicht zu verleihen, ihn „im besten Fall im kulturellen Gedächtnis zu verankern“.
Besonders stolz aber ist Frehse, wenn es ihm gelingt, einen Film zum Thema zu machen, eine Diskussion anzustoßen, wie das etwa mit dem Film Wildes Herz passiert ist. Der Dokumentarfilm über die Band Feine Sahne Fischfilet und ihren Frontmann Jan Gorkow hat nicht nur Fans bedient, sondern dafür gesorgt, dass über den Kampf gegen rechts gesprochen wurde. „Da konnten wir dazu beitragen, dass viele noch mal anders darüber reflektierten, wem man die Heimat überlässt und dass sich der Kampf lohnt.“ Frehse will keine „self-fulfilling prophecy“ äußern, aber so, wie die Rechte sich in der Musik und auf Youtube etabliert habe, könne sie als Nächstes ja auch das Medium Film für sich entdecken. Obwohl: „Nach Marx müsste das revolutionäre Subjekt, und eben nicht die Reaktionären, den modernen Techniken näher sein ...“
Ihren bislang größten Hit landeten die Neuen Visionen mit Monsieur Claude und seine Töchter: Knapp vier Millionen Zuschauer zog die Antirassismuskomödie 2014 in deutsche Kinos. Auch zur Neueröffnung der Kinos in diesen Wochen bietet Frehse einen besonderen Film an: Die perfekte Kandidatin ist der zweite Spielfilm der saudi-arabischen Regisseurin Haifaa Al Mansour, die 2012 mit Das Mädchen Wadjda Kinogeschichte schrieb. Es war der erste komplett in Saudi-Arabien gedrehte Kinofilm überhaupt. Die perfekte Kandidatin wird zwar keine Millionen ins Kino locken – was wegen der coronabedingt auferlegten Platzbeschränkungen auch gar nicht möglich wäre –, aber wie sein Vorgänger bietet der Film in Form einer privaten Emanzipationsgeschichte Einblicke in den für Fremde sonst verschlossenen Alltag in Saudi-Arabien.
Ob so ein Film im Streamingmarkt die besseren Chancen hätte? Über die Frage kann Frehse nur den Kopf schütteln. Gegen Streamen hat er nichts; was ihn ärgert, ist die Art, wie oft darüber berichtet wird. Vieles werde gleich als Megaerfolg dargestellt, ohne es zu hinterfragen. Netflix zum Beispiel mache mehr Schulden als der US-Kinomarkt Umsatz, von welchem Erfolg könne man denn da sprechen? Das TVoD, das Geschäft mit dem Einzelabruf von Filmen, habe in Corona-Zeiten mit lediglich zehn Prozent mehr Umsatz jedenfalls keinen Megaboom erlebt.
Die Schließzeit konnten Frehse und sein Betrieb bislang noch ganz gut überbrücken, sogar ohne Kurzarbeit. Das Bittere sei aber, dass die Krise ja noch lange nicht zu Ende sei, wegen Platzbeschränkungen und fortbestehender Ängste. „Wer weiß, wie viele Leute wir als Kinozuschauer erst mal verloren haben? Die Älteren, die Risikogruppe, darunter vielleicht die Frauen mehr noch als die Männer. Wer die Statistik der Arthouse-Kinobesucher kennt, wird wissen: Das ist genau unser Publikum. Dafür wäre ein Ausgleich wichtig.“
Das Kino, darauf legt Frehse Wert, sei in der Kultur noch einer der wenigen Orte, die, von wenigen Steuerungsmechanismen abgesehen, selbstständig funktionieren. Wer weiß schon, ob das in 30 Jahren noch der Fall sein wird? Und sicher, Corona könnte da ein unheilvoller Katalysator sein. Aber Frehse glaubt auch: „Wenn man die Sache gut macht, mit Engagement und Spaß, dann behält das Kino seine Bedeutung.“
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