Gestern wird heute

Film Die Ereignisse, die „The Trial of the Chicago 7“ nachstellt, wirken auf fast unangenehme Weise gegenwärtig
Ausgabe 43/2020

Die Geschichte ist 50 Jahre her, die Haupthelden sind alle tot, und das Vorhaben, einen Film über sie zu drehen, durchläuft schon seit 15 Jahren die verschiedenen Stadien von stop und go des Hollywood-Studio-Prozesses. Mit anderen Worten: Aaron Sorkins The Trial of the Chicago 7 ist ein gut abgehangenes, gediegenes Projekt. Und zugleich der beste Beweis dafür, dass etwas nicht brandneu sein muss, um brandaktuell zu wirken.

Interessanterweise liegt das weniger am Stoff selbst als an unserer Gegenwart. Was es mit dem Prozess gegen die „Chicago 7“ auf sich hat, ist schnell referiert: 1968 kam es im Umfeld des Parteitags der Demokraten in Chicago zu schweren Zusammenstößen zwischen Polizei und Protestierenden. Kaum dass im Jahr darauf Richard Nixon das Amt des Präsidenten antrat und dementsprechend mit John Mitchell auch seinen eigenen Bundesstaatsanwalt berief, ließ dieser Anklage wegen Anstiftung zu Gewalt und Unruhe erheben. Ins Visier genommen wurden acht Männer, die zusammengenommen ein weites Spektrum von Anti-Vietnamkriegs- und Counter-Culture-Bewegungen repräsentierten. Angeklagt wurden Tom Hayden und Rennie Davis, die als Mitglieder der SDS („Students for a Democratic Society“) für die politisch radikale Linke standen; Abbie Hoffman und Jerry Rubin von den Yippies, der „Youth International Party“, die wegen ihrer Flower-Power-Politik und politparodistischer Aktionen von vielen als Totengräber ebendieser Linken angefeindet wurde; dazu der Antikriegsaktivist David Dellinger sowie zwei junge Männer aus dem weiteren Protestumfeld, John Froines und Lee Weiner, die offenbar strategisch hinzugenommen wurden, um der Jury durch mögliche Freisprüche die harte Verurteilung der anderen zu erleichtern. Der achte Mann in der Ursprungsanklage war Bobby Seale, Mitbegründer der Black Panthers, dem nach dem – im Film ganz offen ausgesprochenen – Kalkül der Staatsanwaltschaft die Rolle zukam, als Afroamerikaner die Jury zu erschrecken. Seales Fall wurde nach einigen Wochen vom Fall der Chicago 7 abgelöst – unter Umständen, die der Film in ihrer Unappetitlichkeit schildert, ohne ihnen den Raum geben zu können, den sie verdienen.

Der Fokus des Films liegt auf dem Prozess als solchem, den Regisseur und Autor Sorkin nach einem dynamischen Auftakt, der die Einzelnen auf ihrem Weg nach Chicago zeigt, mit dem vollen Schwung eines „guten alten Gerichtsfilms“ zeigt. Das heißt: mit geschliffenen Dialogen, gewitzten Anwälten und ohne Scheu vor dem Pathos der Rechtschaffenheit. Es sei ein politischer Prozess, sagt der von Sacha Baron Cohen gespielte Abbie Hoffman in einem Schlüsselsatz. Von heute, 50 Jahre später, aus gesehen scheint diese Analyse so korrekt, dass sie kaum mehr aufregt – schließlich ist sie der Grund, weshalb es lohnt, einen Film zu drehen. Auch wenn man das Politische dieses Prozesses heute anders begreift, als es Hoffman seinerzeit im Blick hatte.

Liberales Besserwissen

Für Hoffman benannte der Satz einen Skandal: nämlich dass mit den Chicago 7 nichts weniger als die Meinungsfreiheit unter Anklage sei, Nixon und sein Staatsanwalt wollten der Protestbewegung einen Schuss vor den Bug erteilen. Sorkins Drehbuch ist denn auch genau darauf zugeschnitten: auf jene Szene, in der Hoffman in den Zeugenstand gerufen und vom Vertreter der Staatsanwaltschaft, Richard Schultz (Joseph Gordon-Levitt) ins Kreuzverhör genommen wird. Ob er in der Absicht nach Chicago gekommen sei, einen Aufstand anzuzetteln, fragt Schultz – Hoffman zögert mit der Antwort. Warum er überlegen müsse, fasst Schultz nach – und bekommt dann die gerade in ihrer Verhaltenheit schlagende Antwort: „Gib mir einen Moment, Bruder, ich stand noch nie für meine Gedanken vor Gericht.“

War das damals so? Wie für vieles im Film gilt: Die groben Fakten stimmen. In den Dialogen aber erkennt man vor allem den Autor Sorkin, der mit Filmen wie Eine Frage der Ehre und vor allem der Serie The West Wing solche kalkulierten Momente des liberalen Besserwissens zu seiner Marke gemacht hat. Dieses „Sorkinesisch“ ist in den letzten Jahren etwas in Verruf geraten, durch seine schwächeren Serien wie The Newsroom, vor allem aber durch die gesamtgesellschaftliche Dynamik, die sensibler geworden ist und nun beim „Sorkinesisch“ die Angeberei, das Mansplaining und das Posieren mit moralischer Überlegenheit heraushört. Hinzu kommt, dass in Zeiten von Trump die imaginierten, in Drehbüchern herbeigeschriebenen Triumphe eines linksliberalen Konsens mehr und mehr wie masturbatorische Fantastereien wirken.

Das historische Material aber macht es nun möglich, dass Sorkin in The Trial of the Chicago 7 wieder zu dem zurückfindet, was in seinem Schreiben auch schon immer angelegt war, nämlich zu einer Art „Linkspopulismus“, der das Komplizierte nicht scheut, stolz auf Intellekt und Bildung pocht und fest an die lockere Überzeugungskraft des besseren Arguments glaubt.

Das Drehbuch zu The Trial of the Chicago 7 hatte Sorkin bereits 2007 fertig; wenn nicht der Autoren-Streik kurz darauf die Hollywoodproduktion zum Stocken gebracht hätte, wäre der Film wohl rund um die Wahl von Obama, dessen Rhetorik durchaus Ähnlichkeiten mit der von Sorkin aufweist, ins Kino gekommen – und dementsprechend anders wahrgenommen worden. Die Geschichte dieses Sommers 2020 aber macht auf andere Weise empfänglich für die Details des Films. Die Bilder der in Krawall mündenden Proteste von 1968, die Atmosphäre des gesellschaftlichen Chaos nach den tödlichen Attentaten auf Martin Luther King und Präsidentschaftskandidat Robert Kennedy und vor allem das Gebaren einer Rechtsprechung, die sich für die Interessen der Politik einspannen lässt – all das lässt sich bedrückend akut zum Heute in Beziehung setzen. Einschließlich eines Richters wie des von Frank Langella verkörperten Julius Hoffman, der unfähig, überfordert und mitnichten neutral dem Prozess vorsaß und verantwortlich war für die offen rassistische Behandlung des Mitangeklagten Bobby Seale. Was der Film illustriert, nämlich dass Seale vor aller Augen im Gerichtssaal gefesselt und geknebelt wurde, ist tatsächlich passiert. Und man wünscht sich, dass das spürbare Unwohlsein, das im Film die Umstehenden, selbst die Staatsanwälte, bei diesem Anblick erfasst, mehr als nachholende filmische Fantasie wäre.

Bobby Seales Geschichte ist dabei nur eine von vielen, die The Trial of the Chiago 7 lediglich anreißen kann und die einen eigenen Film verdient hätten. Eine Lücke, die eventuell mit dem im nächsten Jahr startenden Black-Panther-Film Judas and the Black Messiah gefüllt wird. Auch in dieser Hinsicht weckt also Sorkins Geschichtslektion akut das Interesse an der Gegenwart.

Info

The Trial of the Chicago 7 Aaron Sorkin USA 2020, 130 Minuten, Anbieter: Netflix

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