Kein Hinterwäldler-Zoo

Biopic Die Reaktionen auf Howards „Hillbilly Elegy“-Verfilmung zeigen die Polarisierung der US-Gesellschaft
Ausgabe 48/2020

Wir leben im Zeitalter des Anekdotenbeweises. Das Von-sich-Erzählen hat Konjunktur. Es sind schließlich nicht Statistiken, die Gefühle und Debatten auslösen, sondern Bücher wie J. D. Vance’ Hillbilly Elegy. 2016 in den USA erschienen, gab die autobiografische Schilderung des Aufstiegs eines Abkömmlings aus dem „White Trash“-Milieu vermeintlichen Aufschluss über den Wahlsieg von Donald Trump. Die „Hillbillys“, auf die Vance seine Elegie sang, seine Familie, waren Nachkommen von Generationen von Tagelöhnern, die aus den Appalachen den aufblühenden Nachkriegsindustrien in Ohio nachgezogen waren, nur um dort als Globalisierungsverlierer im Zuge der Verlagerung der Fertigung nach Asien wieder in der Armut zu landen. Trump war noch nicht gewählt, als Vance’ Buch erschien, aber den Typus des weißen, ressentimentgeladenen Trump-Wählers, der „sich nicht mehr länger hinten anstellen will“, hatte er darin in lebhaften Porträts seiner Nachbarn, Eltern und Großeltern auf den Punkt gebracht: Leute, die viel fluchten, viel rauchten und einen trotzigen Hang zu Gewalt, Waffen und Drogen kultivierten.

Ich habe eine eigene Anekdote dazu: Als ich auf einer Kalifornienreise damals in einer Buchhandlung nach der Hillbilly Elegy fragte, schaute mich der Verkäufer leicht irritiert an: „Das führen wir nicht“, war die knappe Auskunft. Und ich war meinerseits irritiert, weil mir der Laden auf aktuelle politische Bücher spezialisiert schien. Ich war auf das Phänomen der Polarisierung gestoßen, jener Kluft zwischen Demokraten und Republikanern, über die hinweg keine Verständigung mehr möglich ist. Denn obwohl J. D. Vance ganz ähnlich wie etwa Didier Eribon in Rückkehr nach Reims vom Rechtsdrall der „bildungsfernen Schichten“ berichtete, war sein Framing eben nicht das eines Linken, der die neoliberalen Strukturen kritisiert, sondern das eines Konservativen, der es mit Disziplin, harter Arbeit und Glück an die Eliteuniversität geschafft hat. Die, die er zurückließ, waren in Vance’ Perspektive auch ein bisschen selbst schuld an ihrer Misere. Und dass Vance zum Zeitpunkt der Veröffentlichung als „venture capitalist“ in einer von Peter Thiel gegründeten Finanzfirma arbeitete, brachte ihm natürlich ebenfalls keine Sympathien von links ein.

Die Kritik verreißt den Film

Wie stark die Polarisierung noch mal zugenommen hat in den vergangenen Jahren, zeigt sich nun unmittelbar an den Reaktionen auf Ron Howards Verfilmung: Kein anderer Film dieses seltsamen Kinojahres wurde in den USA derart einhellig verrissen. Wobei viele Kritiken private Anekdoten enthielten wie „Ich selbst bin als Kind von Hillbilly-Eltern aufgewachsen“ oder „Meine Familie war mittellos“ oder auch „Ich musste meinen Fernseher anschreien“. Das eigene Empfinden spielt im Zeitalter der Polarisierung eben eine große Rolle.

Der Unwille, der dem Film entgegenschlägt, differenziert dabei wenig zwischen Ausgangsmaterial und filmischer Umsetzung. Vielmehr zeigt sich, dass es Vance’ Haltung zu „seinen“ Hillbillys ist, die dem US-amerikanischen linksliberalen Milieu gegen den Strich geht. Als Europäer weiß man oft entweder zu wenig, um das kulturelle Kleingedruckte richtig zu erfassen, oder ist zu unempfindlich, um von den gleichen Punkten getriggert zu werden.

Fast möchte man Ron Howard, einen der letzten großen Mainstream- und Gefühlskinofilmer, die es in Hollywood noch gibt, in Schutz nehmen: Tatsächlich stellt seine Verfilmung den Versuch dar, Vance’ Lebensgeschichte weg von den politischen Frontlinien aufs privat Erfahrene und Nachvollziehbare zu reduzieren und zu entschlacken. Statt mit der schlimmen Kindheit zu beginnen, setzt Howards Film mit einer Krisensituation des Erwachsenen J. D. (Gabriel Basso) ein, der kurz vor einem wichtigen Jobinterview seiner drogensüchtigen Mutter (Amy Adams) zu Hilfe eilen muss. Auf seinem Weg beleuchten Rückblenden schlaglichtartig seine Erinnerungen ans eigene Aufwachsen.

Das Erinnern hat es in sich: Da gibt es die Geschichte, als einmal die verzweifelte junge Mutter sich derartig in ihre Wut auf den kleinen Jungen hineinsteigert, dass dieser glaubt, sie wolle ihn umbringen. Er flieht zu einer Nachbarin, die die Polizei ruft – die dann J. D.s Mutter verhaften will. Vor die Wahl gestellt zwischen Familie und Staatsmacht, entscheidet sich der Kleine natürlich wieder für die Mutter. Nicht gerade zimperlich agiert auch die Großmutter (Glenn Close), die den familientypischen Hang zur Selbstdestruktion aufs Kettenrauchen beschränkt und ansonsten mit viel Drohgebärden den kleinen J. D. von den falschen Freunden weg und hin zu mehr Hausaufgaben bringt.

Sowohl Close als auch Adams verübelt der Großteil der amerikanischen Kritik das „Oscar-ködernde“ Spiel auf den Hillbilly-Effekt, der die Hinterwäldler zum Klischee, zu ausgestellten Exemplaren eines Menschenzoos mache. Aber man kann es auch anders sehen: Sie verleihen ihren Figuren eine komplizierte Vielschichtigkeit, die weder ins rechte noch ins linke Schema passen will. Adams macht die fatale Kombination von Sensibilität, Intelligenz und unbefriedigtem Ehrgeiz bei J. D.s Mutter sichtbar, Close den schwer erträglichen Mix aus Haltlosigkeit und Strenge bei der Großmutter. In kurzen, dahingeworfenen Sätzen bringt sie oft das Empfinden des ganzen Milieus auf den Punkt, ein generelles Sich-kleingemacht-Fühlen.

Info

Hillbilly Elegy Ron Howard USA 2020, 116 Min., Netflix

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