Regisseur Alain Tanner gestorben: Ein Sympathisant der Aussteiger
Film Der Schweizer Regisseur Alain Tanner war ein Sympathisant des Aufbruchs und der Außenseiter. Seine Filme waren absolut modern ohne modisch zu sein. Ein Nachruf
Sein Geschichtsbucheintrag war schon lange vor seinem Tod formuliert. Wie es sich gehört für einen, der die Sturheit besitzt, die eigene große Zeit zu überleben. Alain Tanner war mal der bekannteste Name des Schweizer Films, denn der bekannteste Schweizer Regisseur, Jean-Luc Godard, ist dem französischen Kino zugeordnet. Wie kaum ein anderer Regisseur in Europa bannte Tanner den Geist von ’68 und danach auf die Leinwand. Seine Filme, so lautet die beliebte Kurzformel, handelten bevorzugt von Utopien und Fluchten.
Für viele reicht die Nennung eines Films, um Alain Tanner ins Gedächtnis zu rufen: Jonas, der im Jahre 2000 25 Jahre alt sein wird. Der Titel ist geläufiger als sein Inhalt. Wie in Bernstein gefangen lässt sich darin die Essenz der
arin die Essenz der 70er Jahre betrachten, einer Epoche, in der die größeren und kleineren Revolten fürs Erste vorbei waren und man sich sammelte, um im Blick aufs Millennium nicht die Hoffnung zu verlieren.Für Tanner, den Sympathisanten des Aufbruchs und der Außenseiter, nahmen die Enttäuschungen ab den 80er Jahren immer mehr zu, genau wie die des Publikums mit seinen Filmen. Weshalb man ihn in den 90ern immer häufiger als „aus der Zeit gefallen“ beschrieben hat. Obwohl er weiter Filme machte (seinen letzten, Paul s’en va, 2004), befragte man ihn immer nur nach jenen von „damals“, nach La salamandre und Jonas ..., nach Messidor und In der weißen Stadt. Aber, um ein Lieblingszitat jener Zeit anzuführen, die Tanner in seinen Filmen so prägnant auf den Punkt gebracht hat: Man muss diesen Mann und sein Werk doch differenzierter sehen.Die Sache mit dem ZeitgeistDa ist zum einen die Sache mit dem Zeitgeist. Mit fast schon unheimlicher Treffsicherheit erfasste Alain Tanner ihn bereits 1969 in seinem erstem Spielfilm, Charles – tot oder lebendig, mit dem er sogleich den Goldenen Leoparden in Locarno gewann. Er beschrieb darin eine Figur, die fortan als Idee die Köpfe beherrschen sollte – den Aussteiger. Bei Tanner ist es ein vermögender Industrieller, der eines Tages Villa, Frau und Familienbetrieb verlässt und nach einer kleinen Odyssee von einem jüngeren, „fortschrittlichen“ Paar als Mitbewohner irgendwo auf dem Land aufgenommen wird. Er entdeckt sich und seinen Lebenswillen neu, wird aber am Ende auf Betreiben des eigenen Sohns für unzurechnungsfähig erklärt. Der Film ist keine Aussteigerhymne wie sein zeitgenössisches Pendant Easy Rider. Er überrascht den heutigen Zuschauer damit, wie spröde und verschlossen die graugesichtige Hauptfigur agiert – und wie authentisch er gerade deshalb wirkt.In ganz ähnlicher Weise ist auch die Hauptfigur seines zweiten Films, La salamandre (1971), absolut modern, ohne modisch zu sein. Bulle Ogier verkörpert die Titelfigur, eine junge Frau, die von Job zu Job driftet, schlecht behandelt wird, die sich aber auf eine vitale, instinkthafte Art zu wehren beginnt: durch Undurchsichtigkeit und Unberechenbarkeit ihrer Handlungen. Zwei Männer wollen die „Wahrheit“ über sie herausfinden, ein Journalist und ein Schriftsteller. Der eine versucht es durch Recherche, der andere durch Fantasie. Der Film wurde zum Phänomen. An traditionellen Verleihstrukturen vorbei zog er Zuschauerzahlen, die schließlich die Millionengrenze erreichten. Ohne Zweifel traf La salamandre den Nerv der Zeit, wobei das Schönste vielleicht war, dass die „Rebellin“ im Zentrum selbst dafür keine fertige Formulierung hatte, nur eine Haltung.Eine kleine Geschichte, anhand derer man die große erklären könne – auf den Nenner hat Tanner selbst La salamandre immer wieder gebracht. Um hinzuzufügen, dass das heute vielleicht nicht mehr möglich sei. So wie es weder das Publikum von damals noch die Feindbilder mehr gäbe, was vielleicht am bedauerlichsten sei. Bis ins hohe Alter eine massige Gestalt mit volltönender Charakterstimme, konstatierte Tanner diese Veränderungen ohne Nostalgie oder Selbstmitleid, sondern mit der Verve des scharfen Beobachters, der die Gegenwart immer fest im Blick hat.Die große Freiheit des KinosAls Zuschauerin kann man es ihm gleichtun und ganz unsentimental feststellen, dass seine Filme unterschiedlich überlebt haben: Wo Jonas ... von 1976, Tanners größter kommerzieller Erfolg, mit seinen Politgesprächen am Küchentisch und der Supermarktkassiererin, die den Armen weniger berechnet, heute als Thesenfilm zerfällt, kann ein Werk wie In der weißen Stadt von 1983 geradezu Sehnsüchte auslösen: nach Filmen, die sich die Zeit nahmen, eine Hauptfigur wie den von Bruno Ganz verkörperten Seemann einfach so durch Lissabon laufen zu lassen. Nicht alles musste etwas bedeuten; darin zeigte sich die wahre Freiheit des Filmemachens.Geboren 1929 in Genf, hat es Alain Tanner nach einem Wirtschaftsstudium und einem Job in der Handelsmarine ans Londoner Filminstitut verschlagen. Anfang der 60er kehrte er in die Schweiz zurück, um TV-Dokumentationen zu drehen. ’68 brachte ihn dazu, zum Spielfilm zu wechseln. Fesselnd schilderte Tanner oft, wie zwingend dieser Schritt damals schien: welche Dimensionen des Politischen sich damals in der Kinofiktion auftaten, vorausgesetzt, man machte sich frei von Hollywood und den „klassischen“ Erzählzwängen. Bei Dokumentation gab es Fakten, auf die man hinweisen konnte, im Spielfilm ein Vielfaches davon: Gefühle, Haltungen, Handlungen, Träume, Poesie und Prosa.Ein Mann kommt in einen Tabakladen und kauft sich eine Schachtel Gauloises bleu für einen Franken neunzig – das ist die erste Szene von Jonas ... Welcher Film fängt heute noch so an? Damals funktionierte die Szene gerade in ihrer Nichtigkeit als Provokation. Heute vibriert sie vor Implikationen und Verlusten.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.