Experiment geglückt: Nur Ronald Gladden (mittlere Reihe, 3. v. li.) wusste nicht: alle anderen sind Schauspieler
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Die Zeit der versteckten Kamera ist eigentlich vorbei. Zwar gibt es Fernsehformate wie Verstehen Sie Spaß? – Premierendatum: 31. Januar 1980 – immer noch, aber das Konzept hat sich überlebt. Vor 30 Jahren war die Frage „Sind hier Kameras versteckt?“ noch eine ironische Wendung, mit der man durchblicken ließ, dass man die Situation um sich herum für absurd hielt. Heute dagegen ist die Allgegenwart von Kameras, seien es private, öffentliche oder versteckte, etwas vollkommen Selbstverständliches. Irgendjemand filmt schließlich immer.
Ein „Prank“, wie ihn die Sendung 1988 mit Reinhold Messner auf dem Matterhorn abzog, wäre heute schnell durchschaut, sogar von Messner selbst. Damals hatte das Team in Gipfelnähe per
ipfelnähe per Hubschrauber einen Kiosk aufgebaut, dessen schlecht verkleideter Inhaber dann dem heraufkommenden Bergsteiger ein Sortiment aus aktuellen Zeitschriften und Krimskrams anpries. Purist Messner zeigte sich wenig amüsiert. Darüber, dass hier unter anderem auch seine, Messners Bücher verkauft wurden, regte er sich sogar richtig auf.Eingebetteter MedieninhaltZuzuschauen, wenn unwissende Menschen an der Nase herumgeführt werden, gehört auch ohne Fernsehen zu den zweifelhaften Vergnügungen. Wobei gerade die Ambivalenz besonders bindet: Man will sich mit den „pranksters“ nicht vorschnell gemeinmachen, kann aber dem Spektakel selten widerstehen. Dann wiederum gab es die Methoden von Comedy-Künstlern wie Sacha Baron Cohen, der in die Rolle wechselnder Kunstfiguren schlüpfte, die bekannteste davon Borat, und sich in reale Situationen hineinbegab, um seine jeweiligen Gegenüber zu provozieren und zu entlarven. Mit einer vermeintlich harmloseren Variante solcher Begegnungskonstruktionen macht seit ein paar Jahren der kanadische Comedian Nathan Fielder (How To with John Wilson, The Rehearsal) Furore. Fielding filmt Alltagssituationen, in denen er scheinbar zufällig ausgesuchten Personen hilft. Die Kameras sind nicht versteckt, die Teilnehmer wissen, dass gefilmt wird, aber der Witz besteht zu einem guten Teil darin, dass bald niemand mehr, weder Teilnehmer noch Zuschauer noch Fielding selbst, die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Rollenvorgabe und authentischem Handeln exakt bestimmen könnte.Von der Intention zum „Prank“, dem scherzhaften „Verladen“, würde sich Nathan Fielding distanzieren. Ihm geht es eher um die Lust am Chaos, um Spontaneität, Überraschung – und das Feiern der Originalität des Normalen. Etwas Ähnliches mögen die Macher der Serie Jury Duty im Sinn gehabt haben, die in den USA zu einer Art Sleeper-Hit des Streaming-Zeitalters wurde.Vorspiegelung eines DokfilmsDas Konzept von Jury Duty klingt so seriös wie die im Titel benannte Bürgerpflicht. Für ihre Serie suchten die Macher vorgeblich nach Menschen, die bereit waren, sich bei einer Geschworenen-Tätigkeit für einen Dokumentarfilm mit der Kamera begleiten zu lassen. Ihre Auswahl fiel auf den 29-jährigen Ronald Gladden aus San Diego, der daraufhin im benannten Gerichtshaus erschien, ohne die geringste Ahnung zu haben, dass er sich in einem aufgebauten Set unter lauter Schauspielern befand. Den prominentesten darunter, den Hollywood-Star James Marsden (The Notebook, Westworld), erkannte er noch nicht einmal auf Anhieb. Weshalb die Crew hinter den Kameras schnell improvisieren musste, damit der Groschen bei ihm fällt.Marsden spielt eine quasi übertriebene Version seiner selbst: einen Star, der sich zu wichtig nimmt. Dass einer wie er zur Jury-Pflicht vorgeladen wurde, ermöglicht für die Serienerzählung aber auch gewisse „Plotpoints“. Als Erstes nämlich versucht Marsden vermeintlich aus der Jury-Pflicht wieder herauszukommen, indem er vorspielt, dass seine Anwesenheit den normalen Prozessablauf stören könne. Als er zum Auswahlprozess eine Gruppe von störenden Fans einbestellt, die einen Eklat auslösen sollen, reagiert der Richter jedoch anders: Er ordnet die Sequestration, die Isolation der Geschworenen an – das Ziel der Serienmacher war es, unter besser kontrollierbaren Bedingungen drehen zu können.In sieben halbstündigen Folgen – die achte Folge ist dann das „Making-of“ – dokumentiert Jury Duty also eine Gerichtsverhandlung, bei der alles gespielt, abgesprochen und inszeniert ist – bis auf das Verhalten und die Reaktion dieses einen Geschworenen, des unwissenden Ronald. Die konstruierte Anklage steckt schon voller abstruser Verwicklungen, aber noch weiter treiben es die Serienautoren aufseiten der Geschworenen, die sich nach und nach als Kabinett von Exzentrikern, tragischen Fällen und von Missgeschick Verfolgten herausstellen. Ronald kommt gar nicht dazu, Verdacht zu schöpfen. Er ist zu beschäftigt damit, mit der jeweiligen Situation zurechtzukommen – und das wird zum eigentlichen Ereignis dieser Serie.Ronald hat etwas vom naiven Charme der Jim-Carrey-Figur aus Die Truman Show, was mit dazu beiträgt, dass sich die Perspektive verkehrt. Der stets bescheiden auftretende 29-Jährige nämlich begegnet allen Beteiligten um ihn herum mit einer Offenheit, Toleranz und Empathie, die man bald mehr bewundert als deren Schauspielerei. So wird aus der Serie das Gegenteil eines „Pranks“: Ronald handelt mit bemerkenswert gutherziger Intuition oft richtig, auch wenn ihm Falsches vorgespielt wird. Er leiht ein mitfühlendes Ohr, integriert die Außenseiter und traut sich, Marsden zurechtzuweisen, wenn der über die Stränge schlägt. Zwischendurch kommt ihm alles wie Reality-TV vor, aber so ist das Leben.Placeholder infobox-1