Danke, Corona!

Satire. Auf der Suche nach der verlorenen Integrität.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Danke, Corona! Du hast mir das Vertrauen an den Staat zurückgegeben. Lebenslang hab ich diesen Staat bekämpft. Weil er autoritär war, ungerecht, korrupt, nur die Reichen hat er geschützt, die Armen und die Minderheiten gingen leer aus. Und, und, und. Die Liste ist unendlich lang. Die Liste der staatlichen Gräueltaten. Ja, so war es. Aber heute ist alles anders. Der böse Staat ist plötzlich gut geworden. Einfach so. Ja, das ist typisch für die Bösewichte, dass sie plötzlich gut werden. Ohne Grund. So sind sie eben. Der Staat hat sein liebevolles, lang verstecktes Gesicht gezeigt.

Eine Pandemie geht um in Europa - eine Pandemie der Corona. Die Menschen sterben wie Fliegen. Das sagt die Tagesschau. Der hab ich früher nicht geglaubt, aber jetzt ist alles anders. Die Welt ist gut geworden. Ich brauche nicht mehr zu prüfen, ob das alles stimmt. Ich brauche nicht mal selbst zu denken. Die Tagesschau tut es. Für mich. Wer jetzt misstrauisch ist, muß wohl der Böse sein. Ein Nazi, Antisemit. Die Welt ist schwarz-weiß, aber ich bin immer auf der richtigen Seite. Das ist mir sehr wichtig, weil ich ein guter Mensch bin.

Der Staat kümmert sich liebevoll um die Kranken. Und ich mache es mit. Diese Krankheit ist sehr ansteckend und extrem tödlich. Sagt die Tagesschau. Deshalb bleibe ich selbstverständlich gerne zuhause, um sich selbst und andere zu schützen. Ich verzichte auf Freunde, Familie, Kultur, Sport etc. Ich verzichte gerne auf meine Lebensfreude, damit die Krankenhäuser nicht überlastet werden. Dass der Staat sie kaputt gespart hat? Ja, das war aber früher, als er noch böse war. Man muß doch ihm verzeihen können und eine zweite Chance geben. Dass er im 2020 weitere 20 Krankenhäuser abgebaut hat? Das kann nicht sein - die Tagesschau hat davon nicht berichtet.

Auf dem Weg zur Arbeit höre ich meine Musik. In der Bahn ist es so eng, wie auf einer Tanzfläche. Spontan fange ich an zu wippen. Zum Glück sind die Tanzräume verboten - dort wäre das Wippen lebensgefährlich. Der Staat ist sehr streng, aber so muß es sein. Er will für uns das beste, wie ein liebevoller Vater. Da muß ich nicht immer alles sofort verstehen. Ich vertraue seiner Führung. Ja, ich lasse mich sogar gerne führen!
Zur Arbeit darf ich gehen. Na klar, das Leben geht doch trotzdem weiter. Es muß produziert werden, damit wir mit den notwendigsten Dingen versorgt werden. Mit neuem Auto. Ok, es ist vielleicht nicht so notwendig, aber die Arbeitsplätze müssen erhalten bleiben. Das ist sozial. Das neue Auto ist sozial. Dass die Blumenverkäuferin um die Ecke ihre Existenzgrundlage verloren hat? Und viele andere kleinen Kapitalisten? Gut so! Schluß mit dem Kapitalismus! Na bitte - der Staat hat von alleine erkannt, dass dieses System nix taugt. Dass die ganz großen das doppelte verdienen? Die sind doch systemrelevant.
Was würde ich bloß ohne Amazon tun?

Und was würde ich ohne Facebook, Lieferando & Co. tun? Wo die Menschenkontakte lebensgefährlich sind. Wenn ich schon mal selbst einkaufen gehe, dann nur dort, wo ich bargeldlos bezahlen kann. Auf jedem Gegenstand kann ein böser Virus sitzen. Wer sagt das? Das muß ich doch wohl nicht mehr erwähnen. Hoffentlich wird das Bargeld bald abgeschafft - ein richtiger Schritt zur totalen Sicherheit. Unserer Rettung. Die Minuszinsen für mein Konto? Die zahle ich gerne! Kein Preis ist zu hoch für erfüllte Träume. Es stimmt, dass ich dadurch total transparent werde. Aber ist das schlimm? Ich hab doch nix zu verstecken. Ich bin ein guter Mensch. Die anderen sollten sich fürchten, die, die politisch unkorrekte Dinge kaufen.

Die Kontrolle an sich ist gar nicht so schlecht. Früher war sie ein rotes Tuch für mich, aber jetzt hab ich ihre gute Seiten zu schätzen gelernt. Und ansonsten von einem guten Staat hab ich eh nichts zu befürchten. Ja, die Kontrolle ist sogar notwendig. Woher sonst sollte der Staat wissen, was ich brauche? Wie schlimm diese Pandemie auch ist, sie hat uns aber auch ein Segen mitgebracht. Die Daten. Diese Unmengen an Daten die jetzt gesammelt werden. Nicht nur beim online Einkauf, aber auch, wenn ich meine Hafermilch vom Laden hole. Nicht nur Facebook, sonder auch die alle Videokonferenzen, in die sich mein ganzes Leben verlagert hat. Aber das aller beste ist die Gesundheit. Jede Temperaturschwenkung von meinem Körper wird sorgfältig notiert. Und alle andere Wehwehchen kommen automatisch mit. Das ist gut so. Ich fühle mich beschützt. Ich fühle mich sicher. Und alle um mich herum. Ihre Anwesenheit wird eben notiert.
Ich gebe zu, es ist nicht so günstig für die alle, die sich hier verstecken müssen. Früher hab ich für sie gekämpft. Für ihre Rechte. Für ihr Leben. Aber heute haben wir Pandemie. Sie müssen das verstehen. Es steht viel auf dem Spiel für uns - Schnupfen, Tod, oder schlimmer. Um mein Gewissen zu beruhigen werde ich öfters für sie demonstrieren gehen. Das ist aber bitte nicht mit dem Ablasshandel zu verwechseln.

Es war eine sehr schwierige Zeit. Gleichzeitig hat sie mir aber ein neues Leben beigebracht. Und ich werde es nicht verlieren, da die strengen Regeln schon längst zur Gewohnheit geworden sind.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden