Deus lo vult!“ – „Gott will es!“ Vor 923 Jahren, im November 1095, soll mit diesem Ruf die Menge auf einem Feld vor Clermont Papst Urban II. zugestimmt haben. Er hatte zur Befreiung Jerusalems aufgerufen. So begann der Erste Kreuzzug, mit dem die katholische Kirche die muslimische Welt im „Heiligen Land“ unter ihre Herrschaft bringen wollte. Weitere folgten, und wenngleich sie sich im Einzelnen unterschieden, einte diese Bewegungen die paradoxe Idee, dass etwas Inhumanes wie Krieg in guter Absicht vom Zaun gebrochen werden könne. Damit ist man mittendrin in den Fragen, die in den Blick genommen werden in Kreuzzug mit Hund, dem dritten Gedichtband der 1982 in Bremen geborenen Nora Bossong. In neun Kapiteln findet eine Bewegung von Westen nach Osten statt, werden die Wegstrecken der Kreuzzüge nachvollzogen, von Europa über Israel bis nach Iran, werden politische, historische, religiöse Kontexte zu Gedichten.
Das Auftaktkapitel, Kurzes Asyl, widmet sich Europa, „dieser verschreckten Zwergin am Ende der Welt“. Das erste Gedicht zitiert mit dem Seufzer Ach Europa den Titel eines 1987 erschienenen Bandes mit Reportagen von Hans Magnus Enzensberger. So reiht sich Bossong in eine Tradition ein, die engagiertem Schreiben starkes Gewicht beimisst. Auch bei ihr schwingt etwas von der Ironie mit, wie sie anklingt in Enzensbergers bekanntestem Gedicht Ins Lesebuch für die Oberschule: „Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne: / sie sind genauer. (…) Sei wachsam, sing nicht.“ Man hört diese Tradition zum Beispiel in Hanseträume, wo einem eingeschleppten Fruchtfliegenschwarm der Garaus gemacht wird: „Sie kamen an in dreizehn Kisten, Containergut mit leisem Klang: Fliegen aus anderen Fruchtregionen, wie fremde Vokabeln belagerten sie die Fracht. Während zwei Reeder nach den Insekten griffen, ihren Anspruch auf jede ihre Äußerungen prüften, Kaufleute die unsichtbaren Flügel zählten (…).“
Das zweite Kapitel, Bürgerliche Existenzen, führt in die Enge der Amtsstuben, in denen den wenigsten so wie Kafka die Luft bleibt, die nötig wäre, um der verwalteten Welt etwas entgegenzusetzen. Auch hier ist der Ton sanft ironisch: „Und sagen Sie sind sie überhaupt beglaubigt was soll ich / anfangen mit Ihnen wenn es Sie schlichtweg nicht gibt (…) da müssten Sie sich bitte selbst drum kümmern was glauben Sie was ich bin / auch nur Entgeltgruppe acht neununddreißig Stunden die Woche / am Freitag dann bis zwei der Spalt in dem man lebt und der sich am Montag um acht wieder schließt.“
Europa in seiner Weite und Enge markiert nur eines der Spannungsfelder. Weitere entstehen durch die literaturgeschichtlichen Referenzen. Kapitel vier trägt ein Motto von Hans Jürgen von der Wense, eine Variation zu Enzensbergers zitierten Versen. Wense, der schreibend „der Zeitgeist-Öde ins Ewig-Unermessliche entkommen“ wollte, schlägt vor: „Lest nicht die Times, lest die Ewigkeiten!“
Ziegen und Fliegen
Solche untergründigen Querverbindungen halten den Band, dessen Gedichte und Kapitel sich auf den ersten Blick stark voneinander zu unterscheiden scheinen, zusammen. Sie finden sich auch in den Motiven: Gedichte, in denen die in der abendländischen Mythologie bedeutsamen Ziegen auftauchen (Der diskrete Charme der Ziegen, Kurzes Asyl, Schlossansicht), stehen neben solchen über Fliegen (Hanseträume), sodass sich Motive reimen, da wird der November mehrfach besungen (Im letzten Moment November, Diktion), zeigt sich in vielen Spielarten, wie der Band sein Material zugleich spielerisch und planvoll organisiert.
Und welches Ende nimmt dieser Kreuzzug mit Hund, in dem Religion, Politik, ideologische und ökonomische Interessen gleichermaßen aufs Tapet kommen, auf den sprachlichen Konferenztisch, um das Wort im Sinne dieser aus dem Französischen stammenden Redewendung mettre une affaire sur le tapis zu verwenden? Im neunten Kapitel steht das titelgebende Gedicht. Es schildert eine Mittagsszene in Teheran. Das sprechende Ich betrachtet einen Orientteppich und steigt dann, überwältigt vom Durcheinander aus Smog und Pracht, in ein Taxi: „Der Fahrer beugte sich über die Karte. Versunken, als suche er zwischen den Straßen eine weitere Stadt, doch als er anfuhr, begriff ich: Seine Sehnsucht war nur ein hinkender Hund, der zwischen zwei wartenden Wagen verschwand.“
Im Vergleich der Sehnsucht des Taxifahrers, der auf der Karte nach Orientierung sucht, mit der Sehnsucht des Hundes kondensieren viele Momente des Bandes: der Wunsch, die Welt in ihrem Flüchtigen und Dauerhaften zu lesen, sich zu orientieren, die Aufmerksamkeit für das Detail, für die Bedürftigkeit der Kreatur, die sich, wie der Straßenhund, nicht verwalten, erziehen, domestizieren lässt. Dieser Kreuzzug geschieht nicht unter dem Banner von Siegessicherheit, ist stattdessen behutsame Annäherung an Übereinstimmungen und Fremdheit von Weltbildern, ist ein Gedichtband, der Maßstäbe mit virtuosen sprachlichen und konstruktiven Mitteln analytisch kühl und Anteil nehmend warm auf den Prüfstand stellt.
Info
Kreuzzug mit Hund Nora Bossong Suhrkamp 2018, 101 S., 20 €
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