Mathilda, Birte und Olivia kennen sich seit Schulzeiten. Jetzt treffen sie in einer Jagdhütte im Wald wieder zusammen, wie die Hexen bei Macbeth, in Marion Poschmanns jüngstem Roman Chor der Erinnyen. Und wer sich an die Verfilmung des Dramas durch Joel Coen aus dem Jahr 2021 erinnert, wird den Vergleich zwischen den drei Freundinnen und den Hexenwesen, die in der Coen-Adaption wie Vögel wirkten, beim Lesen zusehends besser nachvollziehen. Darin glichen die Hexen seltsamen Vögeln.
Denn Poschmann, eine der klügsten und renommiertesten deutschsprachigen Autorinnen ihrer Generation, erzählt in Chor der Erinnyen nicht nur die Geschichte der drei Freundinnen, in deren Mittelpunkt die Lehrerin Mathilda steht. Sie rührt mit dieser Konstellation an eine verschwieg
eser Konstellation an eine verschwiegene Seite der abendländischen Geistesgeschichte: an die Tabuierung des Unheimlichen, das vor allem stets Frauen zugeschrieben wurde, die man, wenn sie diese Verbindung zum Unheimlichen als dem Nicht-Fassbaren, Natur- und Triebhaften erkennen ließen, je nach Jahrhundert mal als Hexen, mal als Hysterikerinnen bezeichnete. Es sind Frauen, die noch immer keinen Ort für bestimmte Aggressionen und Gefühle haben.Mathilda, Lehrerin und kinderlose Ehefrau des Wissenschaftlers Gilbert, muss feststellen, dass ihr Mann sie verlassen hat. Er sei in Japan, behauptet er am Telefon, und wer Poschmanns Vorgängerroman Die Kieferninseln gelesen hat, wird das glauben. Mathilda allerdings glaubt es nicht. Dennoch beschließt sie, ihr Leben weiterhin so unter Kontrolle zu halten, wie sie es gewohnt ist, wie sie es ihren Schülern abverlangt und wie sie es von ihrer kalten Mutter gelernt hat. Mathilda ist eine gezähmte Frau, und es scheint, als wäre sie es gern, wären da nicht die Gesichter, mit denen sie regelmäßig zu tun hat. So erscheint ihr die ehemalige Schulfreundin Birte zunächst lediglich als Phantom, taucht dann aber tatsächlich auf, einerseits aus Geldgründen, andererseits aber, um Mathilda einen Kinderfüller zurückzugeben, den diese seit Jahrzehnten verloren geglaubt hat. Von Beginn an verstricken sich Ratio und Unbewusstes, wobei nie ganz klar wird, ob, was geschieht, vielleicht einzig in Mathildas Fantasie Gestalt annimmt, so lange, bis diese Fantasie konkret wird, bis sogar der Wald zu brennen beginnt, in dem die drei Frauen ein gemeinsames Wochenende in Olivias Jagdhüttchen verbringen.Sie verirrt sich regelmäßigSeltsam untergründige Verbindungen bestehen in diesem Roman nicht nur zwischen den Figuren, sondern auch zwischen dem Schreiben als Begrifflichem und Nicht-Begrifflichem. Wann immer Mathilda etwas Privates in eine Chinakladde zu schreiben versucht, wird Gewölle daraus: „Sie ließ sich Zeit mit den Linien, schlang sie sorgsam übereinander, immer dichter.“Das Schreiben als Versuch, Bedeutung herzustellen, ist Mathilda als Lehrerin vertraut, sie verirrt sich aber, wenn es darum geht, in ihrer Handschrift für sich zu schreiben. Mathildas Inneres verirrt sich regelmäßig auf dem Weg in die Welt. Und so gerät auch die Natur aus den Fugen, wenn Mathilda sich in ihr bewegt.Ebendas führt aber ins dunkle Herz dieses Romans. Es braucht, so erzählt der Roman, die Bühne der Natur, auf der sich abspielen kann, was Mathilda verdrängt, unterdrückt, beherrscht, kleinhält und kleinzuhalten gelernt hat. Letztlich könnte er sogar so etwas wie eine Interpretation des Klimawandels nahelegen, doch die Autorin, die in Sachen Nature Writingeiniges in ihrem Œuvre aufzubieten hat, lässt auch hier manches diskret in der Schwebe.Chor der Erinnyen erzählt auch, wie in der Geschichte des Abendlands, vor allem aber seit der Aufklärung zurückgedrängt worden ist, was chaotisch die Bewegung der Aufklärung zu stören versuchte, wie mit jeder Form der schriftlichen Überlieferung das Unheimliche in seine Schranken verwiesen wurde. Ein Beispiel dafür ist die Ikonografie von Pfingsten, über die Mathilda an einer Stelle des Romans nachdenkt: „Vater, Sohn und Taube: Der Vogel stand hier so offensiv am Platz des Weiblichen, dass man an dieser Stelle an ein typisches frauenfeindliches Abwehrmanöver denken mochte. Aber damit machte man es sich zu leicht. Wenn es sich auch scheinbar aufdrängte, die Ersetzung der Muttergestalt durch eine Taube als himmelschreiende Abwertung zu verstehen, vertrat die Taube, sobald man sich den symbolischen Kontext genauer betrachtete, die geflügelten Frauen älterer Kulturen, Frauen, die Geisteskraft symbolisierten, die Weisheit, die Inspiration, Frauen, die von der göttlichen in die menschliche Sphäre zu wechseln vermochten.“Es ist eine Stärke des Romans, dass er die Frage nach verdrängten unheimlichen Kräften von Frauen eben nicht begrifflich stellt, sondern symbolisch, ja allegorisch, und mit dem feinen Humor, der in Marion Poschmanns Werk immer wieder aufblitzt, auch hier, auch in aller Dunkelheit, durch die Mathilda tappt. Und vor dem Hintergrund eines eigenwilligen Schlussbildes, über das man lange rätseln kann.Placeholder infobox-1
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