Poesie ist Mord / sie schneidet kerbt / Ritzen wie Abgründe in die Wirklichkeit / und aus jedem Schroffen / schmäht eine ohrenbetäubende Stimme / die Sprache mit der Zunge.“ Mit diesen Versen beginnt das Gedicht „Babel“ von Tomer Dotan-Dreyfus, der, geboren 1987 in Ramat Gan und aufgewachsen in Haifa, mit 23 Jahren nach Berlin zog und dort Philosophie und Komparatistik am Peter-Szondi-Institut studierte. Dotan-Dreyfus schreibt heute Lyrik und Prosa auf Hebräisch und Deutsch. Eine Auswahl seiner Gedichte findet sich in der Anthologie Was es bedeuten soll, die die in Köln lebende Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Übersetzerin Gundula Schiffer gemeinsam mit dem Verleger, Schriftsteller und Übersetzer Adrian Kasnitz aus dem Hebräischen übersetzt und herausgegeben hat.
Der Band versammelt 13 Stimmen von teils hebräisch, teils deutsch dichtenden, größtenteils jüngeren Lyriker*innen, die hierzulande bis dato kaum wahrgenommen werden. Dankbar darf man dem Herausgeberduo dafür sein. Ihr Band macht ein wenig vertrauter mit noch wenig bekannten Stimmen und ermöglicht zudem eine Teilhabe an dem „Wunder, dass die jüdische und hebräische Kultur in Europa heute wieder pulsiert“, wie die beiden es im Nachwort beschreiben.
Wie immer bei Anthologien, ist auch bei dieser nicht möglich, die Beiträge über einen anderen Kamm zu scheren als den, der durch das Sammelprinzip vorgegeben ist; und so rau und heftig wie in den Versen von Dotan-Dreyfus geht es nicht in allen Gedichten zu. Doch die Erfahrung von „Ritzen“, die von einer geformten Sprache „wie Abgründe in die Wirklichkeit“ geschnitten und gekerbt werden, spiegelt sich in vielen Gedichten des Bandes. Der 1972 in Tel Aviv geborene Schriftsteller und Übersetzer Ronen Altman Kaydar antwortet beispielsweise mit dem zweiteiligen Gedicht „In den Kopf“ auf Sylvia Plaths häufig als Suizidgedicht gedeutetes, zuerst 1965 veröffentlichtes „Lady Lazarus“, das dem seinen das Motto liefert. Sein Gedicht kleidet die Erfahrung einer Selbstentfremdung in finstere Worte, die das Schwellen und Bersten des eigenen Kopfes schildern: „Der Kopf schwillt an. / (…) Meine Augen sehen bloß das Innere des Kopfes. / Es sieht aus wie ein Zimmer, aber ich weiß / zwei Meter vor mir trennt eine durchsichtige Mauer / zwischen Innen und Außen.“
Finstere Worte
Auch Exilerfahrungen und der Zwiespalt, den erlebt, wer zwischen zwei Sprachen steht, spielen in vielen der Gedichte eine Rolle. Nicht nur in satirischer Weise wie „Im Ausländeramt“, das ebenfalls von Ronen Altman Kaydar stammt: „In verschachtelten Sätzen / Deutsch sprechen / nicht zögern / exakt die Regeln einzuhalten. / Nicht vergessen stets das Verb am Ende steht“, sondern auch dem Gedicht „Eisenbett“ der 1974 im nordisraelischen Dorf Alma geborenen, heute in Berlin lebenden Schriftstellerin und Herausgeberin Zahava Khalfa: „Ich renne zwischen Sprachen, Orten / Stottere Fremdworte. / Ich sehne mich nach Bewegung. / Nach einer großen Umarmung / Von einer Frau, die auch Mutter ist.“ Die Erinnerung an Israel findet häufig ihren Niederschlag. In „Jerusalem“ dichtet Zahava Khalfa: „Jerusalem /die Sehnsucht / am Abend / vermischt mit den Rufen des Muezzins. (…) Jerusalem / wenn ich dich vergesse. / Und ich habe / deine Steine vergessen“, während gleichsam antithetisch, in dem Gedicht „mit drückender Luft und Weingeruch“ der 1982 in Haifa geborenen, seit 2011 in Berlin lebenden Dichterin und Journalistin Maya Kuperman gesagt wird: „Ich vergesse dein nicht, Jerusalem / mitternachts sing ich mit deinen Vertriebenen / den Trauergesang der Migranten“, und damit einmal mehr die schmerzliche Erfahrung von Fremdheit und Verlust und Entwurzelung aufgerufen wird. Kupermans Gedichte liefern wiederum Eindrucksvolles aus dem weiten Feld der Liebeslyrik: „Das Einzige, was noch schmerzhafter ist als Schmerz / bist du. / Ich will, dass du in mir stirbst / aber du sträubst dich. / Du haftest fest wie Haut. / Ich selbst muss dich töten.“
In ihrem Nachwort weisen die Herausgeber darauf hin, dass über lange Zeit die Bibel, mit ihren Büchern eines der zentralen Prätextkonvolute, einen besonders wichtigen Traditionsstrang der hebräischen Dichtung ausmachte. Man wird Motive aus und Anspielungen an biblische Texte in den Gedichten einiger Beiträger finden, doch Hebräisch wird als diasporische und kosmopolitische Sprache aufgefasst.
Denn die Säkularisierung hat sich auch hier weiter ausgebreitet, „kann ein israelischer Schriftsteller von heute schreiben, ohne jemals die Bibel gelesen zu haben“, wie die Herausgeber im Nachwort bemerken. In einem Gedicht von Gundula Schiffer, die selbst auf Hebräisch und Deutsch dichtet, liest man: „Ich kam zur Welt, ein Wort / im Fleischeinband / nur die Haut geht nicht ab von mir / doch Glaube, Name, Bindung hab ich nicht / alles abgefallen, drüben weitab jenseits / der Wolkengletscher, wartet vielleicht / festgelegtes Zubehör -- / von dem ich das Gesicht hab für Gedichte.“
Wenngleich Anthologien – und so auch diese – meist zu kleine Proben von dem in sich aufgenommen haben, um eine umfassende Würdigung der einzelnen Positionen zu ermöglichen, machen sie doch im besten Fall neugierig auf Texte und Kontexte. Dieser gelingt es, und das Singuläre einer jeden Stimme, über das Schiffers Gedicht nachdenkt, lässt sich hier vor dem Hintergrund des eingangs beschriebenen Wunders zumindest „probehören“, oder wie es in „Krise“ des 1972 geborenen arabisch-jüdischen Dichters Mati Shemoelof heißt: „Erinnerst du dich wie nach der Sintflut / die Tiere wieder zu sprechen anfingen? (…) Jedes einzelne von uns ist eine eigene Sprache / von der Sonne durch die Hölle ihres Uterus gerollt.“
Info
Was es bedeuten soll. Neue hebräische Dichtung in Deutschland Gundula Schiffer und Adrian Kasnitz (Hg.), Parasitenpresse 2019, 136 S., 15 €
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