Kim Hyesoons „Rede zur Poesie“ spielt in einer Liga mit Paul Celan und Gottfried Benn
Poesiefestival Über Gedichte hat selten jemand so großartig nachgedacht wie die Südkoreanerin Kim Hyesoon in ihrer „Rede zur Poesie“ beim Internationalen Poesiefestival Berlin
Die Rede zur Poesie ist eine Tradition im Rahmen des Internationalen Poesiefestivals Berlin. In diesem Jahr stand das Festival unter dem Motto des leicht abgewandelten Verses No One is an Island von John Donne. Die Autorin der in diesem Jahr groß zu nennenden Rede ist Kim Hyesoon, geboren 1955 in Südkorea.
Die Rede trägt den Titel Tongueless Mother Tongue. Kim erzählt zu Beginn in eindringlichen Szenen, wie sie in jungen Jahren unter der achten Verfassung Südkoreas, der sogenannten Yushin-Verfassung, die von 1972 bis 1980 währte und als Phase der Restauration galt, in einem Verlagshaus zu arbeiten begann. Es herrschte Zensur, und sämtliche Druckfahnen mussten die Kontrollen der Regierung durchlaufen. Die Zensur war willkürlich, ihre Begründungen
ich, ihre Begründungen waren häufig absurd. Kim musste die Resultate der Zensur an die Autoren weitergeben. Das beeinflusste ihr eigenes Schreiben, machte ihre Gedichte wortkarger, deren Rhythmus widerspenstiger, führte zu einer Art Todeserfahrung vor dem Tod: „Die Erfahrung, der eigenen Worte beraubt zu werden, bedeutete, dass meine Zunge noch vor mir starb.“Sich mit Gespenstern einlassen, einer Art anwesenden AbwesenheitIn ihrer extremsten Form führte die Zensur zu einem völligen Verschwinden von Texten. Kim beschreibt, wie die Worte des Theaterstückes ihres späteren Mannes komplett unter der Hand der Zensoren gestrichen wurden. Die Schauspieler entschlossen sich aber dennoch zu einer geisterhaften, weil wortlosen Aufführung, die auf der Bühne immer wieder durchbrochen wurde von „Rufen wie schreckliche Schreie, als würde jemand im Nebenraum von der Polizei verhört werden“.Es ist diese leidvolle und unterdrückte „Sprache ohne Sprache“ und damit eine dem Artikulierten vorgängige Art des Sprechens, in der Kim das „Gespenst der Poesie“ verortet, das jeder dichterischen Stimme eigen ist: „Eine Stimme, die nach anderen Gespenstern (Zuhörer:innen) ruft, die tot sind und umherwandern, die entschwanden, verlassen wurden und verletzt.“ Poesie basiert also auf der Erfahrung von Unterdrückung, Leid, Tod, beziehungsweise einem lebendigen Toten.Poesie zu schreiben und zu lesen, bedeutet, sich mit diesen Gespenstern einzulassen, mit dem, was unterdrückt als „Überschuss der Geschichte“ mitschwingt, was „im Alltag nicht gehört werden kann, was zu existieren scheint, aber in den Sprachen nicht existiert“.Mit ihrem Konzept der Poesie als einer Sprache der Transzendenz, einer Art anwesenden Abwesenheit, einer paradoxen Lebendigkeit von Totem, mit der weiterführenden Beobachtung, dass in der Poesie die Beziehung zwischen Dichter und Objekt nicht eins zu eins, sondern eine Beziehung von vielen zu vielen sei, entwickelt Kim eine Poetologie einerseits der Personifizierung und andererseits Aufhebung von Individualität des dichterischen Ichs, das bei jedem Autor einerseits nur einmal genau so existiert, andererseits aber Stimmen einschließt, die außerhalb der Grenzen des dichterischen Ichs vernehmbar sind. Sie entwickelt eine Poetologie des Mit-Leidens, des Verbundenseins, aber auch der Negativität, der Verstörung.„Motherless tongue“ – ein neuer Referenztext für die DichtungstherorieWas in der dichterischen Stimme aufgehoben ist, ist vor jeder Begrifflichkeit angesiedelt. In ihr schwingt etwas, das von den kognitiven Fähigkeiten des Menschen nicht vollkommen erfasst werden kann, das in seiner ganzen Fülle und in der Aufhebung des Begrifflichen zu einer Leere führt, in der jeder Raum der Worte sich in Richtung Unendlichkeit weitet.Kim Hyesoons Rede gehört zu den großen poetologischen Texten der literarischen Moderne, muss genannt werden in einer Reihe mit etwa den Büchner-Preis-Reden von Gottfried Benn, dessen Probleme der Lyrik von 1951 ebenso zum Referenztext für Dichtungstheorie wurde wie beispielsweise auch Paul Celans Der Meridian, mit der er 1961 anlässlich der Verleihung des Preises Überlegungen zum Gedicht formulierte, deren vergleichende Lektüre mit Kims Rede fruchtbar wäre. Ihre Poesie der Abwesenheit, des Mangels, des Leids, in der „eine Stimme, die von der menschlichen Sprache unbehelligt bleibt“, zu hören ist, macht von einer anderen Seite her deutlich, wie existenziell und universell die Sprache des Gedichts tatsächlich ist, wie unverzichtbar, wie hoch beziehungsweise tief, und welche Zustände der Obsession bei Dichtern und Lesern von Gedichten sich einstellen.Niemand ist eine Insel – in der eigenwilligen und aktualisierenden Version von Kims Rede wehten Grüße von und zu John Donne, dem großen Metaphysical Poet, der vor vierhundert Jahren lebte und schrieb, und dessen Poesie wie die von Kim belegt, dass sich Lyrik durch die Zeiten erhält, die historische Zeit zugleich einzuschließen wie aufzuheben vermag, dass ihre Stimmen sich gegen die Unterdrückung, gegen Zensur, gegen den Tod aufgrund des Todes, gegen die Leere zugleich aufgrund der Leere artikulieren. Es ist eine faszinierende Poetologie der Ambivalenz und des Paradoxen, über die es zu sprechen und weiter nachzudenken gilt.