Lyrik Sappho gilt als die erste Dichterin der westlichen Welt. Beate Tröger zeigt in ihrer Lyrik-Auswahl, wie generationsübergreifend und aktuell Sapphos Werk und das der Antike noch heute ist
Kopf von Sappho: Sie gilt als erste westliche Dichterin
Foto: Imago/Zuma Wire
Manch einem würde man diese Verse gerne laut vorlesen, die von der großen Dichterin Sappho von Lesbos aus dem Clan der Kleonaktiden vor rund 2.500 Jahren geschrieben wurden: „Die einen sagen: ein Heer von Reitern, die anderen: von Fußsoldaten, andere wiederum: von Schiffen sei auf der schwarzen Erde das Schönste – ich aber: das, wonach sich einer in Liebe sehnt!“ Sapphos Weisheit scheint so beträchtlich gewesen zu sein wie ihr Selbstbewusstsein. Sie dichtete: „ich behaupte, dass sich auch ein anderer an uns erinnern wird.“ Denn tatsächlich ist das bis heute der Fall. Obwohl geschätzt lediglich etwa sieben Prozent ihres gesamten Werks in Versen erhalten sein dürften, die man in vielen Übersetzungen, zum Beispiel in d
n, zum Beispiel in der mit einem vorzüglichen Nachwort versehenen zweisprachigen Ausgabe des Baseler Altphilologen Anton Bierl, nachlesen kann. Obwohl etliches mutwillig vernichtet worden ist, haben Sapphos Verse die Nachwelt maßgeblich und weitreichend beeinflusst.Davon gibt ein Sammelband Zeugnis, den die 1997 geborene Literaturwissenschaftlerin Laura Untner zusammengestellt hat: Sappho. Texte zur literarischen Rezeption im deutschsprachigen Raum versammelt Gedichte, Prosa und Ausschnitte aus Dramen, die bis in die Gegenwart reichen. Der Band zeigt, dass eine projektive Kraft gerade in fragmentarisch erhaltenen Werken steckt, und wie sich im Falle Sapphos zusammen mit der dürftigen biografischen Faktenlage ein unabschließbarer Kreislauf von Lektüre und Deutung besonders wild und weit ausgreifend in Gang gesetzt hat, wie das teilweise lose hingestreut wirkende Versmaterial seine Sprengkraft bewahrt. „Alle schlafen, der Mond ist hell und klar, nur ich ruh lose umher, denk an ein Gedicht“, so beginnt Ann Cotten ihre Variationen über ein Fragment von Sappho aus dem Jahr 2010, das Untner in den Band aufgenommen hat. Es ist eine eindrückliche Pastiche eines Sappho-Fragments, in dem Cotten einen hohen Ton mit munterem Witz zusammenbringt, ohne dem Original etwas von seiner Dignität zu nehmen. Im Gegenteil: Cottens Verse lassen dessen Resonanzraum umso intensiver aufleuchten.Auch Lara Rüter, geboren 1990 in Hannover, zitiert in amoretten in netzen Sappho. Sie tut es indirekt, denn sie übernimmt das Sappho-Zitat von der großen kanadischen Dichterin und Altphilologin Anne Carson: „their heart grew cold /they let their wings down.“ Die Gedichte in Rüters Debütband binden für ein Nachdenken über die großen Menschheitsgraphen nach Liebe, nach Fortschritt, auch im Sinne des Handwerks, der Technik, und nach dem Glauben, antikes Material mit geänderten Wahrnehmungsmustern des Digitalzeitalters oft deutlich ironisch zusammen: „ich geh den technischen weg, aber spür ihn kaum. hab ovid an der hand, lehn mich voll rein. ernte romantische blicke. das ist alles.“Man begegnet in Rüters gewagten lyrischen Sprüngen durch die Jahrhunderte nicht nur den Dichtern und Dichterinnen aus vorvergangenen Zeiten, sondern auch deren mythischen Geschöpfen, um sich dann unversehens in der Fachsprache der Genforschung wiederzufinden, um zu fragen, wo die Vergangenheit anfängt, die Gegenwart Geschichte wird: „was ich lieb, ist weit verzweigt und fehlt, gengeflecht wie eingewebt in einen blumenstrauß, der freut. schreib die quellen noch mal neu“. „Schreib die Quellen noch mal neu“, könnte als Schlüsselvers für Rüters poetologisches Programm gelesen werden, in dem das Geflecht des überlieferten und aktualisierten Texts mit den Strahlen der Funknetze konkurrieren muss. Aus dem analogen und digitalen Aufschreibesystem stellt sich ein neues, drittes her. amoretten in netzen ist ein postmoderner Gedichtband, in dem das antike Fragment plötzlich verwandt scheint mit Botschaften, die auf Displays von Smartphones aufblinken. Witzig wirkt das, verspielt und auf sehr lebendige Weise der Tradition verpflichtet.Auch der Mandelstamm-Übersetzer und -Biograf, der Romancier und Essayist Ralph Dutli, der, geboren 1954, im letzten Jahr mit dem Ginkgo-Biloba-Übersetzerpreis ausgezeichnet wurde, ist dichtend unterwegs in der Antike. In Alba, einem Band in zehn Zyklen, der Gedichte aus anderthalb Jahrzehnten enthält, versammeln sich der Meeresgott Proteus und Ikarus, wird der römische Dichter Catull angerufen. Darüber hinaus nähern sich die Gedichte vielem an, was Dutli in seinen Essays und kulturwissenschaftlichen Schriften extrem fasziniert hat: dem Salz oder den Bienen, aber auch den Dichtern, die den Autor besonders fasziniert haben, darunter Dante Alighieri und Arthur Rimbaud. Sinnenfroh und sinnend sind diese Gedichte, die durch die Zeiten wandern und besondere Freude daran finden, das Innere nach außen zu kehren, das Chaos und das Auseinanderbrechen zu feiern: „universales Durcheinander / zeigt mir die wahre Rumpelkammer / sternekitzelndes Weltall // ich liebe das Muster inallem // nur Hybrides lässt mich ganz zurück / Gesprenkeltes ist makellos / Geflecktes ist mein wahres Fell / Geschecktes macht mich wirklich hell“, heißt es im Gedicht Hybrid, das mit dem Vers schließt: „richtig innen ist nur die Hülle.“Inneres nach außen zu kehren, die Rück- und Schattenseiten der Geschichte und Geschichten sichtbar zu machen, motiviert die 1962 geborene Lyrikerin, Romanautorin und Essayistin Ulrike Draesner immer aufs Neue. Gedichte von Draesner, die zuletzt mit Die Verwandelten in Gestalt eines Romans und in einer aus den Recherchen zu dem Roman hervorgegangenen Ausstellung über hundert Jahre deutsch-polnische Geschichte, über Krieg, Gewalt und die Auswirkungen des Kriegs, insbesondere auf die Frauen, nachgedacht hat, finden sich in der vierten Ausgabe der sorgsam gestalteten deutsch-niederländischen Literaturzeitschrift Trimaran. In jeder Ausgabe der Zeitschrift, die ein Gemeinschaftsprojekt der Kunststiftung NRW, des Nederlands Letterenfonds und Flanders Literature ist, finden sich Übersetzertandems zusammen, die wechselseitig ihre Gedichte übersetzen. Ulrike Draesner hat sich mit dem in Brügge lebenden Peter Verhelst zusammengetan.Auszüge aus ihrem Langgedicht Penelope, das sie als Gegenentwurf zur Odyssee als männlich dominiertem Gründungsmythos Europas verstanden wissen möchte und das als Band im Jahr 2025 erscheinen soll, hat Peter Verhelst übersetzt. Draesner hat sich Gedichte Verhelsts vorgenommen. Blick und Gegenblick, das „Innen der Hülle“ beschäftigt die beiden Dichtenden in der Korrespondenz, die den Übersetzungen beigegeben ist und in denen sie sich auch auf Werke der bildenden Kunst beziehen, darunter auf ein Gemälde der Sappho von Charles Mengin. Der Lesenden und Autorin dieser Kolumne wirkt dieser Zufall zeichenhaft, wenngleich er doch lediglich einmal mehr das Weiterreichen der Flamme beglaubigt, die Thomas Morus im 15. Jahrhundert wesentlich für die Tradition bestimmt hat.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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