Mutige Literatur aus Orbánland: Kinga Tôths „Mondgesichter“
Prosa Viele Kulturschaffende verlassen Ungarn. Kinga Tôth gehört zu denen, die bleiben. Ihr jüngstes Buch „Mondgesichter“ erzählt verspielt und mit Humor von Krankheit. Es lässt uns aufmerksamer werden im Blick auf den eigenen Körper
Ungarn ist ein Garant für Hiobsbotschaften nicht nur in Sachen Kultur. Dem Land, das im kommenden Jahr die Ratspräsidentschaft der EU übernehmen soll, wird als Konsequenz seiner zweifelhaften und demokratiegefährdenden Politik derzeit eine stattliche Summe an EU-Geldern nicht ausgezahlt. In der Literaturszene erschreckte zuletzt folgende Meldung: Mit dem Kauf der Mehrheitsanteile von Libri hält das regierungsnahe Mathias Corvinus Collegium (MCC) nun 67,5 Prozent der Anteile an einem der wichtigsten Verlage.
Regelmäßig äußert sich Kinga Tóth zu ihrem Land, das sie liebt und das sie beinahe umbringt, wie sie in dem von einer tiefen Verzweiflung geprägten Prosatext „Memento“ schreibt
Viele Künstler und Künstlerinnen ha
#252;nstlerinnen haben das Land bereits verlassen (der Freitag 15/22), weil sie sich in ihrer Freiheit gefährdet sehen, andere bleiben, ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück oder riskieren ihre Arbeit oder die Möglichkeit, in ein gutes Beschäftigungsverhältnis einzutreten, weil sie sich kritisch über die Politik des Landes äußern. Eine Autorin, die sich das traut, ist die 1983 in Sárvár geborene Kinga Tóth, Lyrikerin, Performerin, Journalistin. Sie lebt derzeit in Debrecen, wo sie an der Universität ihren Dr. phil. zu Darstellungsformen innerhalb der Nonnenkultur fertigstellt. Von dort aus dichtet, liest, schreibt und singt sie auch. Regelmäßig äußert sie sich zur Lage in ihrem Land, das sie liebt und das sie beinahe umbringt, wie sie in dem von einer tiefen Verzweiflung geprägten Prosatext Memento schreibt: „Darf ich die Wahrheit, so roh? Okay, also es gibt diesen Pressure, der mein Herz drückt. Mein Herz, das sich letzten Sommer überticktackiert hat und fast Stop geklopft hat. Mein Herz, worauf ich jetzt aufpassen muss.“ Kinga Tóth bleibt dennoch weiter mutig.Ihre jüngste Publikation fasst unter dem Titel Mondgesichter ein anderes heißes Eisen an. Die 70 Prosaminiaturen des Bandes sprechen aus der Perspektive von Menschen, die mit einer körperlichen Einschränkung zu tun haben und sich deswegen in ärztliche Behandlung begeben, regelmäßig Medikamente einnehmen müssen, wovon ihre Gesichter rund geworden sind. Sie erzählen vom Alltag in Kliniken, Behandlungszentren. „Etwas Tellerartiges ist über meinem Kopf, ganz wie in ER. Ich sehe, dass es eine Lampe ist, aber bin voll von Beruhigungsmitteln, das Bild ist nicht ganz scharf. Auf der Lampe mehrere kleine fliegende Untertassen, scharfes Licht in kleinen Kreisen rückt immer näher. Um mich herum Ärzte in grünen Uniformen (…) Ich belustige mich: So ist es, wenn die Fremden die Erdenbewohner entführen“, heißt es in der Miniatur UFO.Mit ihren Texten, die mal aus der Ich-, mal aus der Wir-Perspektive erzählt sind, zeigt Tóth, dass trotz bestimmter Diagnosen und abweichender Alltage das Leben aufregend bleibt, bei vielen der Betroffenen Humor und Solidarität selbstverständlich sind. Das Kindlich-Verspielte, das Staunen über Apparate, über Routinen von Abläufen, das Sich-Einrichten in ihnen und das Rebellieren dagegen, finden sich in einer bildhaften und neugierigen Weise ausgedrückt.Nach den NarkosenKinga Tóth, die selbst unter einer Autoimmunkrankheit leidet, lehnt das Wort „Krankheit“ ab. Mit dieser Position reiht sie sich ein in eine Tradition von wissenschaftlichen und literarischen Auseinandersetzungen mit Insuffizienz und Versehrtheit, mit den Apparaten, in die man gerät, unter ihnen Susan Sontags Krankheit als Metapher, oder in jüngerer Vergangenheit Paul-Henri Campbells Gedichtband nach den narkosen, in dessen Nachwort der Autor in Analogie zu Judith Butlers Konzept der Heteronormativität das Konzept der „Salutonormativität“ vorstellt, in der der gesunde Organismus als Norm, jede körperliche Beeinträchtigung als Abweichung verstanden wird.„Nach der Pandemie sind wir ohnehin alle Mutanten“, hat Tóth einmal in einem Gespräch geäußert. Mit den Mondgesichtern kann man über ein Kranke ausschließendes Denken hervorragend nachdenken, aufmerksamer werden im Blick auf den eigenen und andere Körper, auf den Umgang damit.Placeholder infobox-1