Ingeborg Bachmanns erster Gedichtband „Die gestundete Zeit“ neu aufgelegt
Poesie Ingeborg Bachmann hat in ihrem ersten Gedichtband „Die gestundete Zeit“ die Kälte und Härte der Nachkriegszeit gefasst. Der erwartete Skandal blieb aus. Warum die Lektüre heute lohnt
Der 1953 erschienene Gedichtband begründete Ingeborg Bachmanns Ruf als den einer der größten Dichterinnen der europäischen Moderne
Foto: Fotograf unbekannt
„Ich bin jetzt mehr denn je davon überzeugt, dass das Erscheinen dieses Bandes ein Ereignis sein wird (…). Denn Ihre Gedichte blenden ja nicht, sondern senken sich langsam auf den Grund“, schrieb Alfred Andersch im Juli 1953 an Ingeborg Bachmann über Die gestundete Zeit, um dessen Herausgabe er sich kümmerte. Der Band mit einem Mottogedicht, 23 Gedichten in drei Teilen sowie dem Monolog des Fürsten Myschkin zu der Ballettpantomime Der Idiot war die erste selbstständige Publikation der damals 27-Jährigen, sie erschien in der von Andersch betreuten Reihe „studio frankfurt“ der Frankfurter Verlagsanstalt. Der Ausgabe war nur kurze Zeit beschieden, der Verlag musste bereits vor deren Erscheinen Konkurs anmelden. Doch Andersch sollte r
och Andersch sollte recht behalten. Die Wirkung der Gedichte hatte eingesetzt. Weitere Auflagen der Gestundeten Zeit folgten und auch der Aufstieg Bachmanns zur Starautorin der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur hatte begonnen. 1952 war sie bei der Gruppe 47 in Niendorf aufgetreten, man erkannte ihr deren Preis zu, der ihr im Sommer 1953 verliehen wurde.Heute ist es nicht einfach Die gestundete Zeit unverstellt anzusehen, ohne die Mythen um Bachmanns Person hinein- oder herauszulesen oder zu versuchen, den Band aus Sicht damaliger Zeitgenossenschaft zu betrachten. Über die Gedichte getürmt haben sich Realia, Briefwechsel, Biografien, Erinnerungen, Filme. Das kündet von der anhaltenden Faszination des Werks und der Autorin, verdeckt aber, was diesen Band noch immer wie eine Perle erscheinen lässt.Wer beim Vergleich mit der Perle „Hilfe, was für ein Kitsch“ denkt, möge kurz Geduld aufbringen. Denn die Struktur zahlreicher Gedichte in Die gestundete Zeit legt den Vergleich nahe, unter ihnen das Titelgedicht, das mit dem Vers „Es kommen härtere Tage“ beginnt und auch endet – und so etwas Rundes bekommt. Stellt man sich die Zeiger einer Uhr dazu vor, die diese „gestundete Zeit“ messen, wirkt das besonders eindringlich. Die Adressierung eines Dus, die auch Selbstadressierung ist, gewinnt gegen Ende an Dringlichkeit, wenn die in Aussagen formulierten Verse des Anfangs zu Appellen werden, wenn aus: „Bald mußt du den Schuh schnüren / und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe“ gegen Ende „Schnür deinen Schuh. / Jag die Hunde zurück. / Wirf die Fische ins Meer. / Lösch die Lupinen! // Es kommen härtere Tage“ wird.Zeilen, die sich ins Gedächtnis einschreibenDazu kommen Motive wie die Zeit, Auge, Schnee, Eis, Regen, Stern, Brunnen. Ihre gezielte Verwendung härtet die Strukturen der Gedichte quasi aus. In Die gestundete Zeit ist realisiert, was Ingeborg Bachmann dem Gedicht zutraute und 1954 in einem Zeitschriftenbeitrag so beschrieb: „Ich glaube, daß (…) wer Gedichte schreibt, Formeln in ein Gedächtnis legt, wunderbare alte Worte für einen Stein und ein Blatt, verbunden oder gesprengt durch neue Worte, neue Zeichen für Wirklichkeit, und ich glaube, daß wer die Formeln prägt, auch in sie entrückt mit seinem Atem, den er als unverlangten Beweis für die Wahrheit dieser Formeln gibt.“ Eine Reihe solcher Formeln finden sich in Die gestundete Zeit, angefangen bei dem zitierten „Es kommen härtere Tage“ über „Die Liebe währt am längsten / und sie erkennt uns nie“ aus Reigen oder „Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land: / schon ist Mittag“ aus Früher Mittag oder „Der Krieg wird nicht mehr erklärt, / sondern fortgesetzt. Das Unerhörte / ist alltäglich geworden. Der Held / bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache / ist in die Feuerzonen gerückt. / Die Uniform des Tages ist die Geduld, / die Auszeichnung der armselige Stern / der Hoffnung über dem Herzen“ aus Alle Tage.Mit diesen Fügungen, deren Findekraft wie Einprägsamkeit derart stark sind, dass sie nicht nur in Schulbüchern, sondern tatsächlich in Gedächtnissen eingeschrieben, tatsächlich zu Formeln geworden sind, gelangt man dorthin, wo die ganze Aktualität der Gedichte auch 70 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen klar zutage tritt: Man gelangt an das Verschweigen historisch gewordener Schuld. Man gelangt in das damalige Klima restaurativer Kälte und Härte. Bachmann transponierte diese Gegenwart virtuos aus dem tagespolitischen Sprechen oder Schweigen in eine lyrische Sprache. Es war die Gegenwart in Deutschland und Österreich nach Ende des Zweiten Weltkriegs, in der sich aufgrund einer traumatischen Kollektiverfahrung des Kriegs, der Shoah und der Schuld eine Umgangssprache zwischen Wiederaufbau und Verdrängung, zwischen Gerede und Verschweigen formiert hatte.In diese spukhafte Sprachlandschaft, die zwischen Trümmern, Versehrung und Vernichtung, Aufbruch und Weitermachen propagierte, müssen diese Gedichte in ihrem kritischen Impetus so verstörend hineingewirkt haben, dass ihre Brisanz kaum zu fassen war. Der eigentliche Skandal nach dem Erscheinen war, dass angesichts dieser zeitkritischen Texte der Skandal ausblieb. Hans Werner Henze hatte Bachmann im Mai 1954 prophezeit: „in diesen neuen gedichten gibt es etwas alarmierendes, skandalöses, befremdliches, erschreckendes. wenn Du so weitermachst, wirst Du auch die wunderbarsten skandale kriegen, ob Du willst oder nicht.“ Eben das geschah aber nicht.Ihr Vater war bei den NazisWie sonst ließe es sich erklären, dass ein Gedicht wie Botschaft keinen Skandal auslöste, in dem es heißt: „Aus der leichenwarmen Vorhalle des Himmels tritt die / Sonne. / Es sind dort nicht die Lebendigen, / sondern die Toten, vernehmen wir. / Und Glanz kehrt sich nicht an Verwesung. Unsere Gottheit, / die Geschichte, hat uns ein Grab bestellt, / aus dem es keine Auferstehung gibt.“Beunruhigend sind diese Verse, in die sich womöglich etwas von Bachmanns Auseinandersetzung mit der NSDAP-Mitgliedschaft des Vaters, über die man in der Familie kaum sprach, mit dessen Soldatentum an der Ostfront im Rahmen des Zweiten Weltkriegs, vor allem aber die 1948 aufgenommene Liebesbeziehung mit Paul Celan eingeschrieben haben dürfte. Sehr früh hatte sie sich mit dem weiterschwelenden Faschismus, vor allem aber auch mit dem Völkermord an den Juden befasst, es in Österreich und Deutschland kaum ausgehalten. In Celan und Bachmann, das belegte bereits der 2008 erschienene Briefwechsel Herzzeit, und darauf weisen die Herausgeberinnnen noch einmal deutlich hin, hatten sich 1948 zwei gefunden, in deren Verbindung der Faschismus und seine monströsen Auswüchse unter der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft als ein Grund des Schreibens wirkte, ein Grund, der die Beziehung zugleich vertiefte und vereitelte.Von heute aus wird das Alarmierende, Skandalöse, Befremdliche und Erschreckende in seiner Gänze sichtbar, einmal mehr durch diese Ausgabe.„A poem should not mean but be“, zitierte Ingeborg Bachmann den Dichter Archibald MacLeish in einem Interview, das sie nach Erscheinen des Bandes gegeben hatte, und fuhr fort: „das gilt für den Schreibenden, der dafür sorgen muss, dass sein Gedicht ist, dass Worte und Bilder eine Wirklichkeit setzen. Aber er hat, wenn er schreibt, nicht an die Bedeutung dessen, was produziert wird, zu denken.“Placeholder infobox-1
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