Wie erzählt man ein Leben, ohne „Ich“ zu sagen? „Sie hatte nur ihre eigene Sprache zur Verfügung, die Sprache aller, sie war das einzige Werkzeug, mit dem sie sich gegen das, was sie empörte, auflehnen konnte. Das zu schreibende Buch würde ihr Beitrag zur Revolte sein“, heißt es in Die Jahre (Les Années, 2008), einem Text, der Denk- und Lesegewohnheiten in Frage stellt. Annie Ernaux, geboren 1940, hat darin einen Weg gefunden, „das Leben zu erzählen“, indem die Hauptfigur des Textes im Schnittpunkt von Beziehungen, politischen Ereignissen, von Moden und Diskursen beschrieben wird. Betrachtungen von Fotos, Erinnerungen, Redewendungen werden collagiert. Das Buch verzichtet auf die Erzählperspektive der ersten Person Singular und ist im Versuch, kollektive Seiten von Individualität zu ergründen, so erkenntnisfördernd wie ergreifend. Obwohl Ernaux in Frankreich viel gelesen wird, wurden bis vor einigen Jahren nur wenige ihrer Bücher ins Deutsche übertragen. Bei Die Jahre stand die Übersetzerin Sonja Finck vor einigen Herausforderungen, hat diese aber eindrucksvoll gelöst.
der Freitag: Wie sind Sie dazu gekommen, „Les Années“ zu übersetzen?
Sonja Finck: Ich bin mit einem Titel einer frankokanadischen Autorin, die mich beeindruckt hat, bei Insel untergekommen. So war ich auch bei Suhrkamp im Gespräch. Ein Jahr später wurde mir Les Années angeboten. Ich habe zugesagt, weil ich wusste, dass Ernaux eine politische, feministische Autorin ist.
Wie gehen Sie an einen Übersetzungsauftrag heran?
Ich lese die Originaltexte, um einen eigenen Ton zu finden, nicht den „O-Ton Sonja Finck“, sondern Annie Ernaux in der Stimme von Sonja Finck.
War Ihnen gleich bewusst, dass das ein stilistisch sehr besonderes Buch ist?
Es war mir klar, als ich den Anfang gelesen habe, wo aus Zitaten, Lektüren, Werbesprüchen, Witzen von Familienfeiern über zehn Seiten ein Erinnerungsbild entsteht. Ich war begeistert von Ernaux’ Französisch, habe aber Probleme auf mich zukommen sehen, die mich viel Zeit und vielleicht auch ein paar graue Haare gekostet haben.
Welche Probleme waren das?
Zunächst der französische Kontext. Ernaux zitiert zum Beispiel Sendungen aus den 1950er Jahren, die Franzosen kennen wie wir Wetten, dass..? oder Dingsda, jedenfalls im Westen, sie spielt mit Namen aus Politik, Kultur und Gesellschaft. In der Übersetzung kann man das oder Namen von obskuren Sportlern oder Kriminalfälle nicht unkommentiert übernehmen. Ich musste schreiben: „der Radsportler XY“; oder: „der Kindermord in dem Dorf Z“, ohne dass der Leser die Erklärung bemerkt.
Zur Person
Sonja Finck, 1978 geboren, lebt in Berlin und Quebec. Sie hat etwa Gayatri Chakravorty Spivaks Unrecht richten aus dem Englischen und Ramón Trigos Das leere Haus aus dem Spanischen übersetzt
Was war Ihr übersetzerisches Lieblingsproblem, was Ihre Lieblingslösung?
Ein Witz über Nonnen: „Le comble de la religieuse est de vivre en vierge et de mourir en sainte.“ Das heißt übersetzt: „Der größte Wunsch einer Nonne ist es, als Jungfrau zu leben und als Heilige zu sterben“, wobei das „als Heilige zu sterben“ auch mit „schwanger zu sterben“ hörbar ist. Der Witz spielt mit dem Klang von „en sainte“ und „enceinte“. Auf Deutsch gibt es da keine direkte Entsprechung. Ich brauchte also einen Witz, der analog funktioniert und habe mit „ins Bett gehen“ im Sinne von „schlafen gehen“ und „Sex haben“ gespielt: „Ein anständiges Mädchen geht um acht ins Bett, damit es um zehn zu Hause ist.“
Mir sind die Araberwitze aufgefallen.
Solche Witze über Türken oder Araber wurden in meiner Jugend in Westdeutschland auf dem Schulhof erzählt: „Fotograf“ heißt auf Arabisch „Allemalachen“, und „Waamahaadaa“ heißt „Glatze“. Diese rassistische, sexistische Witzkultur war in den 1980ern noch präsent, dafür muss man nicht in die 1950er zurück.
Was folgt aus Ernaux’ Versuch, eine kollektive Autobiografie zu schreiben, für die Übersetzung?
Im Verzicht auf das Ich-Sagen spricht Ernaux von sich als „die Frau“ oder „das Kind“ oder „das Mädchen“ oder sagt: „sie“. Vor allem verwendet sie das „man“ als gesellschaftliches „man“ im Sinne von „man machte das so“, oder „man sprach so“, und das „wir“ für eine begrenzte Gruppe, im Sinne von „wir Lehrer“ oder „wir Eltern“. Für beides sagt sie: „on“. Das zieht ein großes Problem nach sich, denn „on“ changiert im Deutschen zwischen „man“ und „wir“. Übersetze ich „man“, rückt es ferner, übersetze ich „wir“, ist es zu nah dran. Auch bei „on“ und „nous“ konnte ich nicht stur „on“ mit „man“ und „nous“ mit „wir“ übersetzen, weil das „on“ manchmal ein „wir“ war. Ernaux schreibt „elle“ für „la femme“ oder „la fille“ und das wird im Deutschen zu „sie“, wobei „sie“ auch schwierig ist, weil es die dritte Person Singular oder Plural bedeuten kann. „Sie“ ist auch das siezende „Sie“. Auch das französische „vous“ wird in der Übersetzung zu einem „Sie“. Bei drei verschiedenen „sies“ muss man haarscharf aufpassen, dass die Bezüge klar bleiben.
„Man“ und „Mann“ sind im Deutschen homophon. Was bedeutet das für den deutschen Text?
In der Literaturgeschichte wurde jahrhundertelang männliche Erfahrung als universell, weibliche als spezifisch begriffen. Ernaux beschreibt dagegen klar weiblich konnotierte Erfahrungen wie Schwangerschaft, Abtreibung, Geburt, Muttersein als universelle. So wirkt das „man“ im Deutschen fast subversiv, weil es ein kleines „man“ mit nur einem „n“ ist.
Ernaux sagt, es gebe kein weibliches Schreiben, vergleicht aber das Verhältnis von Männern zu Frauen mit dem der Klassen zueinander, ist das ein Widerspruch?
Sie sagt in einem Interview: „Es gibt kein weibliches Schreiben. Wir schreiben als Menschen, haben dieselben Autoren und Autorinnen gelesen, finden unseren Stil“, denkt jedoch weiter: Unter den Autoren, die wir gelesen haben, sind viele Männer. Wir machen als weiblich oder männlich sozialisierte Menschen spezifische Erfahrungen. Insofern gibt es vielleicht doch weibliches Schreiben: Ein Mann würde kaum über ungewollte Schwangerschaft, Abtreibung oder Geburt schreiben.
„Es soll eine fließende Erzählung sein, geschrieben im Imparfait, in einer fortschreitenden absoluten Vergangenheit, die die Gegenwart verschlingt. Bis hin zum letzten Bild eines Lebens.“ Wie sind Sie mit dieser poetologischen Prämisse umgegangen?
Bei Ernaux ist alles vom Tod her gedacht: Alle Bilder, die sie in sich trägt, werden verschwinden. Fürs Übersetzen ist das allerdings nicht so relevant, man darf nur keine Formulierungen verwenden, die dem widersprechen.
Bei der Buchmesse erklärte Ernaux, sie hätte „Die Jahre“nicht schreiben können ohne ihre früheren Bücher. Wie sehen Sie das?
Während andere Bücher von Ernaux sich mit einem bestimmten Aspekt befassen, dem Vater, der Mutter, der Kindheit und Herkunft, einem Liebhaber, setzt sie in Die Jahre das Panorama ihres Lebens zusammen. So ragt das Buch aus dem Werk heraus.
Übersetzer Ulrich Blumenbach sagt, dass man es in diesem Job gelegentlich mit Menschheitsbüchern zu tun habe. Halten Sie „Die Jahre“ für eines?
Ja, das ist Weltliteratur. Ernaux seziert die gesellschaftliche Entwicklung in Westeuropa seit dem Zweiten Weltkrieg bis ins Jahr 2006. Viele politische und kulturelle Kontexte, die wir heute erfahren, werden aus dem geschichtlichen Rückblick überhaupt erst verstehbar. Ich würde mir wünschen, dass sie eine Fortsetzung schreibt. Es ist so viel passiert seit 2006.
Ich bin auf Ernaux gekommen, weil Didier Eribon in „Rückkehr nach Reims“ betont, wie wichtig sie für ihn ist. In Deutschland wirkt es, als schippere Ernaux in seinem Kielwasser.
Ich lese das jetzt auch ständig, aber es stimmt nicht. In Frankreich ist es anders, und bei Suhrkamp war schon lange klar, dass Ernaux eine große Autorin ist. Man hat halt mit dem Titel bis zur Frankfurter Buchmesse 2017 mit dem Länderschwerpunkt Frankreich gewartet.
Eribon erzählt, dass ihm während der Arbeit an „Rückkehr nach Reims“ Ernaux’ Bücher geholfen haben, um sich an ihrem Stil neu auszurichten.
Sie bringt Sachen brillant auf den Punkt. Als Jugendliche dachte sie, sie könnte eine neue Sprache erfinden. Das kann niemand. Aber etwas von der Sehnsucht merkt man der Sprache an, sie ist ohne Klischees. Nichts Schlimmeres, als dann im Übersetzen um ausgelatschte Formulierungen zu kreisen. Ich hatte eine Phase, wo ich mir viele Freiheiten herausgenommen habe. Dann bin ich zum Ausgangstext zurückgekehrt mit der Frage: „Was macht die Autorin, weil sie Annie Ernaux ist, und was macht das Französische, weil es das Französische ist?“ Wo Letzteres der Fall ist, kann ich es im Deutschen so schreiben, wie das Deutsche es macht. Aber wo Ernaux etwas schreibt, weil sie Ernaux ist, kann ich nicht drüber hinwegbügeln. Am Ende habe ich alles noch einmal mit dem Original abgeglichen. Oft konnte ich wieder einen Tick näher ans Französische, ohne Rhythmik, Idiomatik oder Melodie zu verlieren – der Idealfall!
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Dieser Beitrag ist erstmals im Dezember 2017 erschienen und wurde am 6. Oktober 2022 zuletzt aktualisiert
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