Eine große Moschee ragt in den Himmel von Dresden empor – so erscheint es zumindest, als unser Bus Richtung Altstadt fährt. Auf der Kuppel steht in großen Lettern Yenidze, der türkische Name einer Kleinstadt, die heute in Griechenland liegt. Das Gebäude soll, als es Anfang des 20. Jahrhunderts entstand, wegen seiner orientalisierenden Formen (Minarette!) heftige Anfeindungen erfahren haben. Der Bauherr, der darin eine Tabak- und Zigarettenfabrik beherbergte, konnte jubilieren: Yenidze war in aller Munde.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass dort, wo hundert Jahre später wieder Bürger, diesmal gegen die sogenannte Islamisierung des Abendlandes und gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung auf die Straße gehen, die Ausstellung Made in Dschermany gezeigt wird. Sie dreht sich um Identität, Sprache, Religion – und befasst sich auch mit deutschem Orientalismus und der Beziehung des Landes zum Islam.
Könnte sein, dass gerade wegen der Anti-Islam-Proteste das Künstler- und Forscherkollektiv Slavs and Tatars die Stadt Dresden mit ausgewählt hat. Unser Bus lässt die „Tabakmoschee“ links liegen und zwängt sich durch die Straßen der Altstadt, um an der Kunsthalle im Lipsiusbau beim Albertinum zu halten. Wir – das sind Kuratoren, Kunsthistoriker und Journalisten, unter anderem aus Deutschland, Lettland, Polen, den USA und Iran, die einen Tagesausflug machen, um die bisher größte Präsentation des Werks von Slavs and Tatars in Deutschland zu sehen. Payam Sharifi, US-Amerikaner iranischer Herkunft und einer der Gründer von Slavs and Tatars, begleitet uns von Berlin aus, wo das Kollektiv ein Studio hat.
Slavs and Tatars, 2006 als Lese-Gruppe gegründet und dem Selbstverständnis nach eine „Fraktion der Polemik und Intimität“, befasst sich vor allem mit einer Region, die hierzulande wenig bekannt ist – auch als Folie künstlerischer Auseinandersetzung: das „Gebiet östlich der Berliner Mauer und westlich der Chinesischen Mauer“, das hier „Eurasien“ genannt wird. Die Region sei, so die Künstler in einem Interview, „zum größten Teil muslimisch, sie ist aber nicht der Mittlere Osten, dann größtenteils russischsprachig, dennoch sehr verschieden von Russland, und schließlich liegt sie zum größten Teil in Asien, war aber mit der Ausnahme von Xinjiang historisch nicht unter chinesischer Herrschaft“.
Und so wie sich die Ethnien und Sprachen, Kulturen und Religionen in der historisch bedeutenden Zwischenregion (Stichwort Seidenstraße) überlappen, finden sich deren Einflüsse auch in der künstlerischen Arbeit von Slavs and Tatars wieder. Und diese verblüfft, provoziert und drängt den Betrachter regelrecht, sich näher mit ihr zu befassen. „Wir verdichten vermeintlich Widersprüchliches in einem Objekt.“
Gleich der Titel der Ausstellung ist ein gutes Beispiel dafür, wie Bekanntes durch den Austausch von Buchstaben plötzlich verfremdet wird: Neben „Made in Dschermany“ prangen etwa die Wortneuschöpfungen „Dschoggingschuhe“ und „Dschetlag“ auf Bannern und Transparenten vor der Kunsthalle. „Die Wörter, die im Deutschen mit Dsch geschrieben werden“, sagt Sharifi, bevor wir uns hineinbegeben, „gehören, wenn man in ein Wörterbuch blickt, zu den östlichen ,Greatest Hits des Orientalismus‘: Dschungelfieber, Dschingis Khan, Dschidda, Dschihadismus. Wohingegen Jogging, Jeans oder Gin Tonic nicht mit Dsch geschrieben werden. Mit dem Dsch kann man daher Begriffe bezeichnen, die anders sind. Es gibt also ,westliche‘ Begriffe, die für unsere Gesellschaft quasi akzeptabel sind, und ,östliche‘, die es nicht sind.“
Wilhelminischer Dschihad
Wie schnell wir schon eine Schrift einer bestimmten Religion zuordnen, lässt sich im Foyer am Beispiel der Arbeit Alphabet Abdal (2015) nachvollziehen: Auf der blau-gelben Teppicharbeit erkennt man arabische Schriftzeichen. Ein Koranzitat? „Jesus, Sohn Marias, er ist Liebe“, heißt es übersetzt und knüpft somit an muslimische wie christliche Überlieferung gleichermaßen an. Arabisch, so der Subtext, ist eben nicht nur eine heilige Schriftsprache des Islam.
Die Verknüpfung von säkularen und religiösen Gegenständen ist ein wiederkehrendes Sujet, das mit unterschiedlichen Materialien angegangen wird. Dresdner Gitter (2018) heißt eine Installation aus Stahl, die aus einem Stück Absperrgitter besteht, wie man es von Polizeieinsätzen kennt. Daran sind lederne Sitzgelegenheiten und Rahlen, Buchständer, die für Heilige Schriften benutzt werden, auch aus Stahl, befestigt. Die Installation lädt ein, Platz zu nehmen, und nach dem doppelten Boden der Werke zu fragen, den Subtext zu entschlüsseln, die Irritationen zu reflektieren. Die kräftigen Farben, die Kombination alter und neuer Elemente bei den Skulpturen, Glasarbeiten und Plakaten, sie sind freundliche Einladungen, genau hinzusehen.
Zur künstlerischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung von Slavs and Tatars mit Eurasien, mit Fragen der Identität in Zeiten von Globalisierung sowie der Macht und des Missbrauchs von Sprache und Schrift gehören auch Lese-Performances und eigene Bücher. Apropos. Sie liegen in der Ausstellung aus und laden zur (gemeinsamen) Lektüre ein. In der zu „Made in Dschermany“-Schau erschienenen Publikation Wripped Scripped gehen Slavs and Tatars beispielsweise mit El Dschihad tiefer auf die Entstehung einer sehr ungewöhnlichen Zeitung ein, die mit der Siebdruck-Arbeit Reverse Dschihad (2015) auch Raum in der Ausstellung einnimmt. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs initiierte die deutsche „Nachrichtenstelle für den Orient“ unter dem Orientalisten Max von Oppenheim El Dschihad. Die Zeitung machte in mehreren Sprachen unter den südlich von Berlin in zwei Kriegsgefangenenlagern internierten muslimischen Soldaten Propaganda für den „Heiligen Krieg“ gegen die Alliierten – mit eher geringem Erfolg.
Wissen die Bürger, die in Sachsens Hauptstadt und anderswo gegen „den Islam“ protestieren, von diesem hundert Jahre alten Dschihad „Made in Germany“? Kommen sich, wenn man das erfährt, Vergangenheit und Gegenwart nicht merkwürdig nahe? Made in Dschermany setzt, indem es wenig bekannte Seiten deutscher Geschichte zum Gegenstand von Kunst macht, auf jeden Fall einen Kontrapunkt zum herrschenden Schwarz-Weiß-Denken. Die Ausstellung zwingt im positiven Sinne, sich intensiver mit „Fremdem“ zu befassen und festzustellen, wie viel von uns selbst darin steckt. Und nicht nur mit Made in Dschermany, sondern auch auf andere Art setzen sich die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden für einen Austausch, in dem Fall zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, ein. Das erlebe ich, als unsere Gruppe von der Kunsthalle im Lipsiusbau in den Lichthof, die große Eingangshalle des Albertinums, weiterzieht, um eine Pause zu machen. Seit Ende 2015 kommen hier einheimische Bürger mit Geflüchteten an den „ABC-Tischen“ des Vereins Dresdner Umweltzentrum zusammen.
Vor unserer Rückfahrt nach Berlin spazieren wir noch entlang der Elbe zur Porzellansammlung und zum Mathematisch-Physikalischen Salon, wo sich „Interventionen“ von Slavs and Tatars befinden. Und auch hier bringt das Kollektiv wieder auf den ersten Blick gegensätzliche Dinge zusammen. Zwischen kitschig anmutenden Porzellanarbeiten hängt schräg über einer Büste Augusts III. eine graue Fahne mit einem roten Kreuz und dem inoffiziellen Motto Polens. Auf Deutsch: „Im Namen Gottes für eure und unsere Freiheit“. Eine russische und persische Übersetzung findet sich darunter. Die Arbeit In the Name of God (2013) entstand, als Slavs and Tatars die Beziehungen und Parallelen zwischen Polen und Iran untersuchten. Die Arbeit kann „als Aufforderung gelesen werden, sich einer Weltgeschichte der Verflechtungen anzunähern“. Das gilt in der Tat für die ganze Ausstellung.
Info
Slavs and Tatars: Made in Dschermany Kunsthalle im Lipsiusbau, Dresden, 2. Juni bis 14. Oktober 2018
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