Es war nie normal

Antisemitismus Der Judenhass ist nie ganz aus Deutschland verschwunden. Im Kampf gegen Antisemitismus und Islamophobie muss Deutschland säkularer werden

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Es war nie normal

Foto: Christof Stache / AFP/ Getty Images

Beim kollektiven Blick auf die deutsche Geschichte ergibt sich häufig ein recht bequemer Narrativ. Der Großteil der Gesellschaft leugnet den Holocaust und die Gräueltaten der Nazis nicht. Das Dritte Reich wird als schwarzer Fleck in der deutschen Geschichte angesehen und als solcher auch nicht kleingeredet – anders als bei denjenigen, die ihn als „Vogelschiss“ abtun wollen. Und dennoch drängt sich auch in den Erzählungen derjenigen, die prinzipiell nicht im Verdacht der Verharmlosung stehen, oft der Eindruck auf, dass der Antisemitismus mit dem nationalsozialistischen Regime kam und wieder ging. Ein paar Jahre davor verschärfte sich die Stimmung und auch die Aufarbeitung begann erst nach einigen Jahren. Aber im Großen und Ganzen beschränkt sich der Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft auf einen recht überschaubaren Zeitraum in der Vergangenheit. So der Narrativ.

Doch dieser Narrativ übersieht nicht nur, dass die „Endlösung der Judenfrage“ nur die menschenverachtende Zuspitzung eines jahrhundertelang gepflegten, mal offen zur Schau gestellten, mal verdeckt gehaltenen Antisemitismus war. Der Antisemitismus in Mitteleuropa geht bis ins Mittelalter zurück. Dieser Narrativ übersieht auch, dass Judenhass noch längst nicht aus den Köpfen der Menschen verschwunden ist.

Mit dem Wachsen des muslimischen Bevölkerungsanteils ist es zu einer weiteren Verbreitung antisemitischen Gedankenguts gekommen. Doch wer muslimischen Zuwanderern die Schuld dafür geben will, dass immer mehr Juden mit dem Gedanken spielen, Deutschland zu verlassen, der übersieht das eigentliche Problem.

Ein Problem, das auch ich lange übersehen habe. Ich habe mich manchmal gefragt, warum es in Deutschland so wenig sichtbares jüdisches Leben gibt. Wie viele Juden wohl noch in Deutschland leben, habe ich manchmal überlegt.

Natürlich ist Religion in erster Linie Privatsache. Daher ist es erst einmal unproblematisch, dass Juden als solche nicht zwangsläufig zu erkennen sind. Zum Glück sind die Zeiten, in denen Juden einen Davidstern tragen mussten, (vorerst) vorbei. Und obwohl die öffentliche Debatte häufig etwas anderes suggeriert, erkenne ich auch bei einem Mann mit arabischem Aussehen und einer blonden, weißen Frau nicht von außen, ob sie religiös sind und an welche Gottheit sie glauben.

Wenn ein Mitbürger, Freund oder Kollege Ramadan feiert, bekomme ich das mit. Alles andere wäre angesichts des tagelangen Fastens zwar auch ungewöhnlich. Und dennoch ist es ein gutes Zeichen, dass Muslime in Deutschland trotz weit verbreiteter Ressentiments ihr wichtigstes Fest – das Fastenbrechen – unter den Augen der Öffentlichkeit feiern können.

Juden können das offenbar nicht. Diesen Eindruck erweckt jedenfalls der verhängnisvolle Mittwoch von Halle. Wer wusste vor dem heimtückischen Anschlag, dass die Juden an diesem Tag Jom Kippur feierten? Vermutlich außerhalb der jüdischen Gemeinde in Deutschland kaum jemand.

Und das ist ein großes Problem. Genauso, wie es ein großes Problem ist, wenn Menschen, die ein Kopftuch oder eine Kippa auf der Straße tragen, Angst vor Übergriffen haben müssen. Die Tatsache, dass die Religionsausübung in einem säkularen, weltoffenen Staat zunächst einmal Privatsache ist, bedeutet nicht, dass Religionsausübung nicht öffentlich sein kann und soll.

Dass ein Fest wie Weihnachten in einem immer noch überwiegend christlich geprägten Land einen größeren Raum einnimmt als der Ramadan, ist vollkommen normal. Ebenso nachvollziehbar ist, dass der Ramadan angesichts steigender Zahlen muslimischer Gläubiger in Deutschland präsenter wird. Und was ist mit Jom Kippur? Dem hinduistischen Lichterfest Diwali? Oder dem buddhistischen Fest Vesakh?

Sicherlich ist zu berücksichtigen, wie groß der Anteil der Menschen ist, die in Deutschland einem anderen Glauben als dem Christentum angehören. So machen Hindus, Buddhisten und eben Juden weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus. Ihre Feste bleiben in Deutschland unter dem Radar. Gerade beim Judentum ist dies erschreckend angesichts der jahrhundertelangen Verwurzelung dieses Glaubens in Mitteleuropa. Und eine multikulturelle, globalisierte Gesellschaft sollte sich auch in religiöser Hinsicht weiter öffnen.

Doch der Säkularismus in Deutschland leidet unter einigen erheblichen Mängeln. Das Kirchenrecht des Grundgesetzes wurde Eins zu Eins aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen – und ist damit 100 Jahre alt. Längst wäre es an der Zeit, ein moderneres Kirchenrecht zu schaffen. Exemplarisch lassen sich hierfür die Feiertage heranziehen. Sämtliche religiöse Feiertage in Deutschland sind christlich. Was bei Weihnachten und Ostern noch verständlich ist, ist es bei Pfingsten, Fronleichnam und Allerheiligen nicht. Die wenigsten Christen in Deutschland dürften heute noch wissen, was an diesen Tagen eigentlich gefeiert wird.

Zwei Optionen bieten eine säkulare Auflösung dieser Schieflage an. Entweder religiöse Feiertage werden komplett gestrichen und durch weltliche ersetzt. Oder aber die religiösen Feiertage werden zumindest auf die beiden anderen großen, in Deutschland (mittlerweile) verwurzelten Religionen – den Islam und das Judentum – ausgedehnt. Ersteres dürfte die Mehrheit der Bevölkerung ablehnen – aus gutem Grund: Wer möchte schon ernsthaft, dass Weihnachten und Ostern ganz normale Arbeitstage werden? Religiös begründete und gesellschaftlich tief verankerte Traditionen zu pflegen schafft gerade in einer globalisierten Welt ein wenig Stabilität und Gefühl der Vertrautheit. Doch statt Pfingsten, Fronleichnam und Allerheiligen könnten Eid und Jom Kippur zu neuen Feiertagen erklärt werden. Das wäre ein ermutigendes Zeichen an andere Religionsgemeinschaften, dass sie ihren Platz in Deutschland haben.

Und es würde zugleich ein weiteres Dilemma lösen: Nicht-christliches religiöses Leben würde sichtbarer in Deutschland. Alle hätten auch ohne den Anschlag von Halle mitbekommen, dass die Juden am 8. und 9. Oktober Jom Kippur feiern. Ganz einfach deswegen, weil sie an diesem Tag nicht zur Arbeit gemusst hätten.

Hochrangige Politiker sollten als Zeichen der Akzeptanz jüdischen Lebens in Deutschland Veranstaltungen an hochrangigen jüdischen Festen besuchen. Bisher sieht man sie leider immer nur dann, wenn wieder etwas passiert ist. Bei Mahnwachen. Für das Verhältnis zu Muslimen gilt dies genauso.

Es ist war nie normal und es ist immer noch nicht normal, dass die Polizei in Deutschland noch immer jüdische Einrichtungen Tag und Nacht schützen muss. Oft genug habe ich mich in der Vergangenheit gefragt: Ist das wirklich noch notwendig? Genauso wie das aktuelle jüdische Leben in Deutschland bewegte sich auch der weiterhin vorhandene Antisemitismus ganz offensichtlich unter meinem Radar.

Islamophobie und Judenhass lassen sich nur dadurch bekämpfen, dass man Muslime und Juden in Deutschland stärkt und die Akzeptanz gegenüber ihren Religionen erhöht. Die Zeit der Lippenbekenntnisse muss vorbei sein. Es müssen Handlungen folgen. Deutschland muss säkularer werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin Scholz

Jurist, freier Journalist & Vorstand einer gemeinnützigen Organisation zur Unterstützung benachteiligter Menschen in Indien

Benjamin Scholz

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