Witwenbergplatz

Zeitgeschichte 1986 Am Westberliner Grips-Theater wird das Musical „Linie 1“ uraufgeführt. Die Inszenierung spiegelt den Zeitgeist einer Teilstadt im Schatten der Mauer
Ausgabe 18/2016

Statt über Verspätungen der S-Bahn zu klagen, hat das Grips-Theater dem öffentlichen Personennahverkehr in Berlin ein Denkmal gesetzt. Am 30. April 1986 wird dort das Musical Linie 1 uraufgeführt und bald weltweit Berühmtheit erlangen. Der Plot ist schnell erzählt: Eine junge Ausreißerin vom Lande sucht ihre vermeintlich große Liebe, einen Rockmusiker aus Kreuzberg, mit dem sie nach seinem Auftritt in der Provinz eine Romanze hatte. Es zieht sie, wie damals viele junge Westdeutsche, unter den Himmel von Berlin. Dort ist das Mädchen auf der Suche nach Johnnie unterwegs auf Linie 1 – eine der ältesten Berliner U-Bahn-Trassen zwischen den Bahnhöfen Ruhleben und Schlesisches Tor über Zoologischer Garten und Gleisdreieck – und begegnet einem Haufen spleeniger Großstadtcharaktere. Wegen ihrer Naivität im Umgang mit einem teils exzentrischen urbanen Milieu kommt es zu absurden Situationen.

Viele Episoden, die das narrative Gerüst von Linie 1 bilden, basieren auf Kabarettszenen von Volker Ludwig, dem Gründer des Grips und Autoren des Musicals. Als die Proben Anfang 1986 begannen, hätten die Schauspieler an der Machbarkeit des Vorhabens gezweifelt, erinnert er sich heute. „Da elf Darsteller 90 Rollen spielten, herrschte hinter den Kulissen oft Chaos.“ Was auf die Bühne kam, sollte das Charisma der etwas aus dem Tritt geratenen Metropole Westberlin spiegeln, die seinerzeit im toten Winkel der Weltpolitik eher ein Schattendasein fristete. Aufgeboten waren Obdachlose, Straßenmusiker, Skins, Homosexuelle, aufgedrehte junge Frauen, berauschte junge Männer, sportive Machos, streitende Ehepaare, Spießbürger, Anzug tragende Immobilienmakler. Durchdrungen vom Zeitgeist der 80er Jahre in Westberlin wirkt das Stück bis heute alles andere als antiquiert, viele der gespielten Typen bevölkern weiter das Großstadtpanoptikum, vielleicht ein Grund für den Erfolg des Musicals weit über die einstige „Frontstadt“ im Ost-West-Gewitter hinaus.

Nachdem ein englischsprachiger Grips-Regisseur das Stück übersetzt und mit dem Ensemble einstudiert hatte, sollte Linie 1 bis 1988 auch bei Gastspielen in Dublin, London, Omsk, Paris, Wien, New York und Melbourne reüssieren. Als „besonders bewegend“ blieb Volker Ludwig eine kleine DDR-Tournee in Erinnerung, die dem Kulturabkommen zwischen beiden deutschen Staaten zu verdanken war. So spielte das Grips-Ensemble 1988 in Karl-Marx-Stadt, Dresden und Halle. Da man nicht in der DDR-Hauptstadt auftreten durfte, seien viele Ost-Berliner im Publikum gewesen, glaubt Ludwig.

Das Grips-Theater tourt noch bis 2003 durch Deutschland und die Welt, auch wenn bereits ab 1988 an etlichen Bühnen im Ausland Linie 1 nachinszeniert wird, in der Regel, ohne Originalsongs und Geschichte anzutasten. Einzig das Transportmittel ist an manchen Spielstätten keine U-Bahn, sondern ein Kleinbus. In Mosambik, Namibia, Jemen, Indien und in der Türkei feiern Adaptionen der Fabel ihre Premiere.

Der 2012 verstorbene Komponist Birger Heymann hat viele mitreißende Songs geschrieben, von denen einige über das Musical hinaus bekannt blieben. So wurde Marias Lied Du bist schön, auch wenn du weinst von der Punkrock-Band Beatsteaks und dem Rapper Sido gecovert. Das Lied der Wilmersdorfer Witwen hielt Einzug in verschiedene Kabarett-Programme. Außerdem wurde die von Heyman geschaffene Alliteration bald zum geflügelten Wort: „Wilmersdorfer Witwe“ steht seitdem sinnbildlich für gut situierte, standesbewusste ältere Damen, deren verstorbene Männer zu NS-Zeiten wohlbestallte Posten bekleidet hatten. Im Stück steigen sie am Bahnhof Wittenbergplatz aus der U1, um in „ihr“ KaDeWe zu gehen und die Nazipension zu „verfrühstücken“.

Für politisch gefärbte Kontroversen taugte die Performance freilich nicht. Die Kritik deutete Linie 1 mehr als „boulevardeskes Entertainment“, das sich an Publikumsbedürfnisse halten wolle, statt auf darüber hinausgehende Botschaften bedacht zu sein. Volker Ludwig glaubt, sein Musical habe mit dafür gesorgt, dass die Spielpläne an deutschen Theatern seither viel lockerer gestaltet würden, mit mehr Offenheit und mehr Mut zur Unterhaltung.

Zunächst jedoch können viele deutsche Theater dem Stück nichts abgewinnen. „In vielen Städten hieß es, der Stoff passe nicht, weil es dort keine U-Bahn gebe“, sagt Ludwig. Es hat tatsächlich ein Jahr gedauert, bis zuerst Stuttgart das Stück nachinszeniert. Dann folgen innerhalb von Wochen 15 weitere Theater. Heute wird Linie 1 nicht zuletzt von Gymnasiasten in mancher Schulaula aufgeführt.

Im 1972 gegründeten Grips-Theater hatte man von Anfang an weder Märchen nacherzählen noch ein „kindertümelnder“ Spielort sein wollen. Das Grips war bei den jungen Zuschauern wegen seiner realistischen Stücke und der behandelten Themen beliebt, die zum Teil von Kindern angeregt wurden. Es ging um das Rollenverständnis von Jungen und Mädchen, um Erziehung, geschiedene Eltern, Fremdenhass oder Behinderte. Doch so sehr die Kinder klatschten und jubelten, eine Partei konnte das Theater nicht überzeugen: die Westberliner CDU.

Die Konservativen hätten 1975 „gemeinsam mit der Springerpresse eine politische Kampagne gegen das Grips gestartet“, erinnert sich Volker Ludwig. Dem Ensemble wurden „Jugendgefährdung“ und „linksradikaler Agitprop bei wehrlosen Kindern“ vorgeworfen. Die Stücke würden Kinder zur Auflehnung gegen ihre Eltern und andere Autoritäten anstacheln, man erlebe Indoktrination durch „kommunistische“ Schauspieler. Es wurden Forderungen laut, das Theater zu schließen, zeitweilig verboten CDU-regierte Stadtbezirke die Aufführungen von Grips-Stücken. 1978 endete die Kampagne.

Ungeachtet aller Erfolge hatte sich Volker Ludwigs Theater mit der Produktion von Linie 1 finanziell übernommen, allein für die Kostüme war ein Zweijahresetat fällig gewesen. Trotz ausverkaufter Vorstellungen machte das Grips im Premierenjahr 200.000 Mark Schulden. Ludwig trat deshalb in einer Talkshow auf und erklärte, das Haus müsse schließen, wenn es für das Theater keine höheren finanziellen Beihilfen gebe. Daraufhin setzte sich ausgerechnet Klaus-Rüdiger Landowsky, Generalsekretär der Westberliner CDU, dafür ein, die Pleite zu verhindern und die Zuschüsse zu erhöhen. Vermutlich hielt es der damalige CDU/FDP-Senat für nicht opportun, das renommierte Grips bankrottgehen zu lassen. Immerhin stand im Frühsommer 1987 die 750-Jahr-Feier Berlins vor der Tür.

Historisch gesehen war die Fabel des Musicals nach dem 9. November 1989 überholt. Das Theater reagierte darauf mit inhaltlichen Anpassungen: Der Mauerfall und die bald veränderte Streckenführung auf der U-Bahn-Linie 1 wurden einbezogen ebenso wie nach der Jahrtausendwende die europäische Einheitswährung. Nun wurde nicht mehr gefragt: „Haste mal ’ne Mark?“, sondern um „’nen Euro“ gebettelt. Mit der Zeit habe man freilich gemerkt, dass Konzessionen an den Zeitgeist „Quatsch“ seien, so Volker Ludwig. Seit 2004 wird Linie 1 wieder aufgeführt wie im Mai 1986. In der Originalfassung ist die Inszenierung ein Dokument der Zeitgeschichte, nicht nur für Zeitgenossen, ebenso für nach dem Mauerfall geborene Berliner. Eine Momentaufnahme, die übrigens auch die Stadthälfte auf der anderen Seite der Mauer nicht ausblendet. Im Osten würden einem die Leute wenigstens noch zuhören, meint eine ältere Frau, bevor sie umsteigt, um ihre Schwester in Ostberlin zu besuchen.

Zur Originalfassung gehört auch, dass die U-Bahn-Linie 1 auf der Bühne weiter nur bis Schlesisches Tor fährt, statt wie heute über die Oberbaumbrücke zur Warschauer Straße. Als die Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) 1993 die bisherigen Linien 1 und 2 um Abschnitte im Ostteil der Stadt erweiterte, dachte man darüber nach, die alte U1 in U2 umzubenennen. „Nicht zuletzt wegen des Musicals“ habe man diesen Plan aber verworfen, heißt es.

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Geschrieben von

Ben Mendelson

freier Journalist. Schwerpunkt: öffentliche Daseinsvorsorge und Privatisierungen. Wirtschaftshistoriker und Vierteljurist.

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