In den Metropolen explodieren die Mieten, und das Land verödet – ist das wirklich so? Und wenn ja, was kann man dagegen tun? In der vergangenen Ausgabe forderte der Politologe Benjamin Barber ein globales Parlament der Bürgermeister. Diese Woche erläutert die Sozialwissenschaftlerin Heiderose Kilper, dass ländliche Regionen besser sind als ihr Ruf – aber auch oft Impulse von außen brauchen.
der Freitag: Landflucht, Überalterung, Wahlerfolge für Rechtspopulisten – Frau Kilper, haben ländliche Regionen ein Imageproblem?
Heiderose Kilper: Mit Sicherheit. Die Zuschreibungen von außen sind negativ, und für die genannten Phänomene gibt es empirische Belege. Trotzdem würde ich diesem Bild nicht zustimmen, da es pauschalisierend und stigmatisierend ist. Tatsächlich ist die Situation weitaus vielfältiger, denn es gibt genauso empirische Belege dafür, dass es auf dem Land ganz anders geht. Aber das Imageproblem ist da, und es macht die Sache nicht einfacher. Neben den nicht zu leugnenden Problemen muss man sich auch noch gegen die Fremdwahrnehmung stemmen.
Dieses negative Bild hat aber auch seine Ursachen.
Natürlich. Das belegt zum einen die demografische Entwicklung. Junge Menschen ziehen in die Städte, die ländliche Gesellschaft wird immer älter. Zum anderen ist auch das Arbeitsplatzangebot auf dem Land geringer. So ergibt sich eine Abwärtsspirale. Die Frage ist: Was tut man dagegen? Für unsere raumbezogene Sozialforschung ist dabei das Begriffspaar „Innovation und Wissen“ zentral. Wir schauen, wo und wie soziale Innovation entsteht, wie jenseits etablierter Handlungsmuster etwas gewagt wird, was die Voraussetzungen und Mechanismen sind, damit Neues entsteht und das Leben in den Dörfern lebenswert macht.
Und welche wären das?
Ein Beispiel, für das es gerade in Ostdeutschland viele gelungene Erfahrungen gibt, ist die Gemeinde, die sich um ihre Kirche schart, weil die in einem schlechten Zustand ist. Die Bewohner sammeln dann Spenden und renovieren sie. Dadurch festigt sich das Gemeinwesen, die Kirche wird eine Attraktion, und siehe da: Leute kommen von außen, um die Kirche zu besichtigen, und geben der Gemeinde dadurch Selbstbewusstsein.
Zur Person
Heiderose Kilper, Jahrgang 1953, ist Direktorin des Leibniz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung in Erkner sowie Professorin für Stadt- und Regionalentwicklung an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
Foto: Presse
Ländliche Phänomene wie Tante-Emma-Läden oder Gemüsegärten gibt es inzwischen auch in Städten. Sollte man das Land dann nicht einfach Land sein lassen?
Diese Phänomene werden normalerweise nicht als ländlich, sondern als hip charakterisiert. Dabei beziehen sich Handwerk und Biolandwirtschaft im Grunde auf ländliche Lebensweisen. Auf dem Land ist beides eben auch Teil der traditionellen Siedlungsstruktur. Insofern sollten wir das Land auf keinen Fall einfach nur Land sein lassen. Zumal ich diese Entgegensetzung von Land und Stadt ohnehin für problematisch halte. Die Dörfer, die ihren Weg gehen und nicht in Lethargie verfallen, sind so clever, dass sie ihre Absatzmärkte auch in der Stadt organisieren und sich so mit ihnen verbinden.
Wie kann es zu solchen Dynamiken in den Dörfern kommen?
Wir beobachten immer wieder, dass ländliche Gemeinschaften Impulse von außen erhalten. Zugereiste oder Touristen, die einen anderen Blick auf Potenziale in der ländlichen Gemeinde haben als die Bewohner. Danach ist die Frage, wie die Menschen vor Ort reagieren. Natürlich passiert es nicht selten, dass sie sich abschotten. Aber wenn sie sich öffnen und wenn eine Schlüsselfigur – oft der Bürgermeister – aufgreift, was von außen kommt, das Entwicklungspotenzial erkennt und die eigene Autorität ins Spiel bringt, sind das Erfolgsfaktoren.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Wir erforschen etwa eine Landgemeinde in der Eifel namens Kyllburg, ein ehemals erfolgreicher Kurort. Dort waren alle bekannten Phänomene gegeben – Wegzug, Alterung, Leerstand. Kurz: Niedergang. Dort hat sich eine Offensive gegen Leerstand gebildet, die mit Kunst und Kultur der tristen Hauptstraße neues Leben einhauchte. Die Idee dazu stammte von einem langjährigen Hotelgast, dem der Ort am Herzen lag. Dann kam aus den Niederlanden eine Gruppe von Künstlern, die diesen Impuls aufgriffen und mit Leben erfüllten, die Ladengeschäfte nutzten, um dort Kunstprojekte zu präsentieren. In der Bevölkerung kam das nicht uneingeschränkt positiv an, aber der Bürgermeister – und natürlich auch einige Bewohner – fand das gut. Das Projekt brachte dem Ort Kunst, Kultur und Identität – und inzwischen auch Investoren. Jetzt kann man sagen: Total spinnert, was hilft das denen? Doch es hilft ihnen tatsächlich. Weil das wieder aktiviert, Leben zurückkehrt und zum Teil Touristen und Künstler nachziehen. Innovation heißt auch zu experimentieren. Und auf dem Land gibt es den Raum dafür.
Aber sind das nicht Einzelfälle?
Ein anderes Beispiel ist Bechstedt in Thüringen, das besonders stark auf Bioenergie setzt. Die Energiewende zu meistern – dafür ist der ländliche Raum prädestiniert. In einem Dorf ist die Zahl der Haushalte überschaubar, dort gibt es den Raum, um regenerative Energie herzustellen und autark zu werden. Es ist ein Projekt, das Gemeinwesen aktiviert sich, und irgendwann sparen sie sogar Geld. Plessa, im Braunkohlegebiet Niederlausitz, versucht es wiederum mit Kultur. Dort hat eine Berlinerin einen Erzählsalon organisiert. Dabei kommen interessierte Einheimische zusammen und erzählen ihre Geschichte der Transformation. Sie gehen aktiv mit ihren oft schmerzhaften Erfahrungen um und verfallen nicht in Apathie.
Welche Lehren zieht man daraus?
Diese Beispiele eint, dass am Anfang ein immens hoher Problemdruck stand. Doch es gab eine oder zwei Personen, die nicht bereit waren, sich dem zu beugen. Entscheidend ist: Es braucht eine Idee – die oft von außen kommt. Und innen muss jemand da sein, der das begreift, aufgreift und zu seiner Sache macht.
Auf dem Land gibt es oft engmaschige Netzwerke, die wenig offen für Neues sind. Im extremen Fall zeigt sich das in Form von Fremdenfeindlichkeit. Verschreckt das nicht Impulsgeber?
Klar, es gibt auch viele Fälle, in denen Initiativen von außen gescheitert sind, weil sich die Dorfgemeinschaft mehrheitlich gegen Projekte gewehrt hat. Doch eine solche Haltung kann überwunden werden, wenn die Schlüsselfiguren Abschottung nicht mitmachen. Trotzdem kann man nicht leugnen: Das Wahlergebnis der AfD, etwa in Sachsen-Anhalt, ist ein politisches Alarmsignal. Der Erfolg des Rechtspopulismus hat aber auch viel mit Ängsten vor dem Unbekannten zu tun. Ich könnte mir denken, dass ländliche Gemeinschaften eher zu einem populistischen Verhalten neigen als städtische. Sie sind im Umgang mit Unbekanntem einfach nicht so trainiert. Allerdings: Dresden ist nicht gerade ein Dorf. Und dort gibt es das genauso.
Dabei könnten enge soziale Netze eigentlich dabei helfen, Geflüchtete zu integrieren. Während in Berlin zum Beispiel riesige Notunterkünfte entstehen, gäbe es auf dem Land viel Leerstand.
An unserem Institut befassen wir uns in der Bundestransferstelle „Stadtumbau Ost“ auch mit Sanierungsnotwendigkeiten in ostdeutschen Städten und dem Plattenbauabriss. Dabei kamen vor kurzem auf einer Tagung die verschiedensten Akteure von Wohnungsbaugenossenschaften über Kommunen bis hin zu Ländervertretern zusammen. Grundsätzlich nahmen die Vertreter dabei nicht die Haltung ein, dass das auf dem Land überhaupt nicht gehe. Stattdessen kam durchaus die Bereitschaft zum Ausdruck, sich damit auseinanderzusetzen. Eine Aussage war aber auch, dass das nicht das Problem des Stadtumbaus lösen kann. Überschüssige Wohnungen werden überschüssig bleiben, denn auch auf dem Land muss der Ghettobildung entgegengewirkt werden. Geflüchtete müssen so verteilt werden, dass sie mit Einheimischen in Kontakt kommen, sodass diese sich um sie kümmern. Das heißt nicht, dass es keine Ressentiments in der Bevölkerung gibt, aber die können überwunden werden. Und gerade auf dem Land kann das gelingen, weil die Anonymität nicht so groß ist.
Geflüchtete könnten ländliche Regionen also wiederbeleben?
Natürlich. Man findet ja die gelungenen Einzelbeispiele, etwa in Hoyerswerda. Auch die haben ihr Kontingent an Geflüchteten zugeteilt bekommen. Einer von ihnen, ein Familienvater, war gelernter Friseur. Der örtliche Friseur hat diesen Mann erst einmal probeweise eingestellt. Nun hatte der eine besondere Begabung für Herrenfrisuren und Bärte. Der Mann aus Libanon hat damit so viel Kundschaft in den Laden gezogen, dass es in Hoyerswerda zum Erfolgsmodell wurde. Und das in der Stadt, deren Image zunächst etwas anderes hätte vermuten lassen. Doch am Ende überwiegt die Bereicherung, dann ist auch dort die Globalisierung angekommen. Unsere Gesellschaft ist so reich, so fähig und so gebildet, dass ich da schon noch optimistisch bin.
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