Vor 15 Jahren gründete Markus Beckedahl das Blog „netzpolitik.org“. Was einst als Spielwiese für Aktivismus im digitalen Zeitalter begann, ist heute ein journalistisches Projekt mit 16 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, das vor allem Debatten um digitale Grundrechte prägt. Zum Gespräch bittet Beckedahl in die Redaktion in Berlin.
der Freitag: Herr Beckedahl, der erste Text, der 2004 auf „netzpolitik.org“ erschien, handelte davon, dass Patente die Softwareentwicklung gefährden. Klingt nach Nische. Worum ging es Ihnen?
Markus Beckedahl: Mir fehlte damals einfach ein Ort, an dem alle relevanten Artikel zu netzpolitischem Aktivismus und digitaler Zivilgesellschaft gesammelt wurden. Es gab ja noch keine sozialen Medien im heutigen Sinne. Insofern habe ich erst einmal angefangen, einerseits Artikel zu schreiben, aber vor allem Texte zu kuratieren. Also das, was man heute eher auf Twitter und Facebook macht.
Inzwischen stoßen Sie mit eigenen Recherchen breite Debatten an. Wann wurde „netzpolitik.org“ außerhalb der „digitalen Zivilgesellschaft“ bekannt?
Das Thema Vorratsdatenspeicherung wurde ab 2005 schon entscheidend über uns in die Massenmedien getragen. Das erste Mal berichtete die Tagesschau darüber, als die Vorratsdatenspeicherung in Brüssel abgesegnet wurde. Dann hörte man nichts, bis sie in Deutschland beinahe beschlossen wurde. Das Thema wurde im Grunde durch Blogs und Zivilgesellschaft als rote Linie kommuniziert. 2007 standen dann 15.000 Menschen am Brandenburger Tor und alle großen Medien sagten sich: „Oh, irgendetwas aus dem Internet ist da, damit müssen wir uns auch mal beschäftigen.“ 2009 berichteten wir sehr viel über schülerVZ. Das soziale Netzwerk hatte damals fast das Monopol auf den Schulhöfen, war aber unsicher. Uns wurden über eine Million Datensätze von Schülern zugespielt – sortiert nach Alter, Schule und Hobbys. Als wir diese Geschichte exklusiv veröffentlichten, standen die Kamerateams hier erstmals Schlange.
Wurden Sie ernst genommen – und vor allem verstanden?
Natürlich gab es schon vor uns Fachmedien wie heise. Bei den Massenmedien hängt es immer noch daran, ob Einzelpersonen diese Themen spannend finden oder nicht. Trotzdem hat sich einiges verändert: In den Anfangszeiten freuten wir uns, wenn die Tagesschau einmal im Monat über ein netzpolitisches Thema berichtete, und heute ist ja fast jeden Tag etwas Digitales dabei. Das hat einerseits mit der Relevanz zu tun, andererseits aber auch mit Generationenwechseln in den Redaktionen.
„Journalismus an sich halte ich nicht für bedroht“
In den Nullerjahren gab es auch die große Debatte „Blogs vs. Journalismus“
Die war immer auch ein Bisschen schwierig. Denn die meisten Blogger wollten nie journalistisch sein, doch viele Journalisten verstanden das nicht. Sie fühlten sich von Bloggern bedroht. Dabei lag und liegt die Bedrohung darin, dass sie an einem alten Trägermedium festhalten. Journalismus an sich halte ich nicht für bedroht.
Sie haben also schlicht eine Leerstelle besetzt, indem Sie als Blogger im Netz über relevante Themen berichteten?
Wir haben sicherlich von Anfang an eine vorhandene Lücke gefüllt, wenn auch nicht als Einzige. Heise leistet schon so lange ich mich erinnern kann tolle Arbeit – allerdings vor allem für eine IT-Blase. Wir weisen früh auf Debatten hin, die unsere Eltern erst in fünf Jahren verstehen werden – und mitbekommen werden, dass auch sie davon betroffen sind. Dazu kann man häufig auch Entscheider aus Medien und Politik zählen, die aus einer ähnlichen Generation kommen.
Zur Person
Markus Beckedahl, wurde 1976 in Bonn geboren. Seit über 20 Jahren befasst er sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf Politik und Gesellschaft. Er ist Mitbegründer der re:publica sowie Gründer und Chefredakteur des mehrfach ausgezeichneten Blogs netzpolitik.org
„netzpolitik.org“ berichtet jahrelang über Themen wie Vorratsdatenspeicherung oder EU-Urheberrecht – und es passiert über Jahre nichts, bis auf einmal die Aufregung groß ist und alle mitreden. Ist das ein gutes Gefühl oder eher frustrierend?
Ich habe mich daran gewöhnt. Das passiert uns mit fast allen Themen und die meisten werden gar nicht so groß wie Uploadfilter oder Vorratsdatenspeicherung. Wenn man aber jahrelang auf solch ein Thema hinarbeitet und auf einmal ist die gesellschaftliche Debatte da, dann ist das schön. Leider passiert das meistens zu einem Zeitpunkt, wo die politischen Entscheidungen schon gefallen sind. Insofern bemühen wir uns natürlich immer schon frühzeitig, Menschen für diese Themen zu sensibilisieren.
Was sind andere Geschichten, auf die man nach 15 Jahren besonders gerne zurückblickt?
In den Anfangszeiten haben wir „netzpolitik.org“ nie als journalistisches Medium bezeichnet. Das wurde uns irgendwann von Journalisten angetragen. Nach unserem anfänglichen Selbstverständnis waren wir Aktivisten, drückten Knöpfe und probierten aus, wie das mit dem Internet und Politik funktioniert. Später erlebten wir, wie es ist, wenn man auf einmal exklusive Informationen von Quellen bekommt. Wir stellten fest, dass Journalisten nicht immer nur draußen herumrennen und etwas suchen, sondern dass eine Quelle auch mal zu ihnen kommen und Informationen weitergeben kann, die möglicherweise der Anfang einer Recherche sind. Was das anging war 2009 – das Jahr, in dem wir die SchülerVZ-Recherche veröffentlichten – ein sehr ereignisreiches Jahr.
Inwiefern?
Damals hatte die Deutsche Bahn einen Mitarbeiterskandal, der nur scheibchenweise öffentlich wurde. Auf einmal bekamen wir ein Protokoll des Landesdatenschutzbeauftragten, in dem eine viel umfassendere Überwachung dokumentiert war. Das stellten wir einfach online. Daraufhin kriegten wir eine Abmahnung der Deutschen Bahn, in der stand, wir hätten vier Tage Zeit, um das aus dem Netz zu nehmen. Wir veröffentlichten natürlich erst mal diese Abmahnung. Mehrere Tage gab es einen kleinen PR-Krieg mit der Deutschen Bahn, die ihre Abmahnung schließlich zurückzog. Diese Erfahrung hat uns bei der Landesverratssache massiv geholfen.
2009 war außerdem Bundestagswahlkampf. Die CDU warb unter anderem mit einem Schäuble-Plakat, auf dem stand: 'Wir haben die Kraft für Freiheit und Sicherheit.' Damals war das Schäuble-Innenministerium für Maßnahmen wie die Vorratsdatenpeicherung oder Online-Durchsuchungen verantwortlich. Also bloggte ich, das Bild sei doch eine super Remix-Vorlage. Abends gab es schon 30 verschiedene Sprüche – das war 2009, das war noch nicht so wie heute, aber am nächsten Morgen kam die Aktion im ZDF-Morgenmagazin. Die Fotografin sah das, drohte uns aus Gründen des Urheberrechts mit einer Abmahnung, was wir natürlich gleich wieder bloggten. Daraufhin hatte die CDU ein Problem, weil die Partei nicht alle umfassenden Rechte gekauft hatte. Nach einer Woche hatten wir etwa 1000 verschiedene Remixe. Das meiste davon war Müll, aber für die 20 oder 30 kreativen Entwürfe hat sich das alles gelohnt. Die Nullerjahre waren ein großer Abenteuerspielplatz und Experimentierfeld, das viel zu wenige genutzt haben.
Die Nullerjahre waren eine Pionierzeit
Wieso ist diese Freiheit verschwunden? Hat das etwas mit der wachsenden Macht der sozialen Netzwerke zu tun?
Die Nullerjahre waren eine Pionierzeit, in der man sehr viel ausprobieren konnte. Es war eine kritische Masse im Netz da und sie vernetzte sich. Heute gibt es eine große Ausdifferenzierung an Szenen oder Communities. Das war damals anders. Wir organisierten zum Beispiel den sogenannten 'Webmontag'. Dort trafen Journalisten auf Gründer und Aktivisten, weil der ‚Webmontag‘ mit das Einzige war, was rund ums Thema Internet in Berlin existierte. Heute gibt es viele Start Up-Events, aber diese Art der Begegnung findet dort nicht mehr statt. Im Netz war der Austausch ähnlich. Es gab nur eine begrenzte Anzahl an Bloggern und man las kreuz und quer. Heute gibt es eine Art Überangebot bei Facebook, Twitter etc. Dafür ist die Finanzierung im Netz heute leichter.
„netzpolitik.org“ finanziert sich in erster Linie über Spenden. Funktioniert so ein Modell dauerhaft?
Es funktioniert seit sechs Jahren und das überrascht uns positiv. Wir haben auch mit Werbung experimentiert. Allerdings verwendet unser Tech-getriebenes Publikum Anti-Tracking-Tools, sodass wir es irgendwann mit Spenden probiert haben. Seitdem nehmen wir kontinuierlich mehr Spenden ein, können damit unsere Redaktion ausbauen und sind heute sehr glücklich, darüber etwa 600.000 Euro im Jahr einzunehmen. Es gibt nicht viele Medien in Deutschland, denen das gelingt.
Google ist als Tech-Konzern sehr aktiv, was die Förderung journalistischer Projekte angeht. Ist das für „netzpolitik.org“ kein Thema?
Wir haben das für uns abgelehnt, aber uns ist schon bewusst, dass sehr viele der Medien, die man als Konkurrenz um Aufmerksamkeit sehen könnte, teilweise unser Jahresbudget von Google bekommen, um in Technik nachzurüsten – während wir uns nur einen Teilzeit-Administrator leisten können. Andererseits fühlen wir uns auch unabhängiger, um weiterhin kritisch über Google berichten zu können. Denn hier werden große gesellschaftliche Fragestellungen berührt.
Die Spendeneinnahmen bei „netzpolitik.org“ dürften gestiegen sein, als 2015 gegen Sie und Ihren Kollegen Andre Meister wegen Landesverrats ermittelt wurde. Dabei war die ursprüngliche Geschichte erst einmal untergegangen.
Das war relativ frustrierend. Wir hatten im Frühjahr 2015 in zwei Artikeln dokumentiert, wie der Verfassungsschutz in Sachen Netzüberwachung aufgerüstet wurde. Wir wollten eine gesellschaftliche Debatte darüber anstoßen, ob der Verfassungsschutz überhaupt zu Massenüberwachung im Netz berechtigt ist. In einem der Artikel hatten wir Auszüge aus Haushaltsplänen veröffentlicht, die zeigten, wie so eine neue Abteilung aussieht. Sie zeigten die Banalität der Bürokratie beim Aufbau des Überwachungsstaates. Um neun Uhr gingen wir damit online und dachten, jetzt können wir endlich mal die Debatte darüber führen. Um zwölf Minuten nach neun erklärte der damalige Justizminister Heiko Maas, dass er die Vorratsdatenspeicherung wieder einführen will. Da war unser Thema natürlich tot. Drei Monate später wurden wir allerdings informiert, dass wegen Landesverrats gegen uns ermittelt wird.
Was macht man, wenn man so ein Schreiben liest?
Die ganzen Tage waren surreal. Wir suchten erst im Netz, was „Landesverrat“ überhaupt bedeutet. Aber dann sagten wir uns: erst mal veröffentlichen. Wir wunderten uns zunächst, dass überhaupt nichts passierte, dass es zwei, drei Stunden dauerte, bis alle anderen Medien berichteten. Im Nachhinein haben wir erfahren, dass alle anderen Redaktionen auch erst mal im Strafgesetzbuch nachschlagen mussten. Und dann ging es los: Auf einmal ruft BBC World News an. Dann stehen die ganzen Kameras da und die Mutter ruft an, der man vergessen hat, Bescheid zu sagen, die aber im Videotext gelesen hat, dass ihrem Sohn eine Freiheitsstrafe bis zu lebenslänglich drohe.
Stattdessen gab es Solidarität.
Drei Tage später veranstalteten wir eine Demonstration, das war ein schönes Gefühl. Wir machten Party und dachten, das Ding sei durch. Am nächsten Morgen wachen wir verkatert auf und stellen fest, dass wir in einer Staatsaffäre gelandet sind. Justizminister Heiko Maas und Generalbundesanwalt Harald Range widersprechen sich und irgendwann ist Range weg. Nach zehn Tagen war es endlich vorbei und dann interessierte sich auch keiner mehr dafür, weil die Flüchtlingsdebatte anfing.
Ermittlungen wegen Landesverrats ist ja eher „Spiegel“-Format. Gab es eine Art Boost?
Wir hatten Glück. In den zehn Tagen haben wir um die 100.000 Euro mehr an Spenden bekommen, als wir sonst in dieser Zeit bekommen hätten. Aber uns war auch klar, dass das eine einmalige Sache war.
Was „netzpolitik.org“ von vielen anderen Medien unterscheidet, ist, dass Sie viele Dokumente komplett veröffentlichen. Das ist nicht immer ungefährlich.
Auch das war ein Lernprozess. Die ersten Gesetzesentwürfe und Dokumente habe ich schon 2007 oder 2008 veröffentlicht. Wir haben allerdings sehr schnell gelernt, dass man nicht einfach alles unkontrolliert online stellen kann, sondern Metadaten aus den Dokumenten entfernt werden müssen, genauso wie personenbezogene Informationen, die für eine öffentliche Debatte einfach irrelevant sind. Durch dieses „learning by doing“ haben wir uns den Journalismus angeeignet. Es stand für mich früher nie zur Debatte, Journalist zu werden. Und irgendwann war ich es trotzdem.
Wieso veröffentlichen Sie die Dokumente?
Warum sollte man sie nicht veröffentlichen? Wenn man Dokumente hat, hat man einen Vorteil – so denken viele Journalisten, deswegen zitieren sie nur daraus, um zu verhindern, dass andere die Dokumente nutzen. Wir praktizieren offenen Journalismus, das heißt, wir stellen die Originaldokumente online – natürlich nachdem wir sie verifiziert haben. Damit unsere Lesenden uns überprüfen können, aber auch, damit andere Journalisten damit arbeiten können.
Hat eine solche Einstellung mit Ihrer Netzsozialisation zu tun?
Ja, möglicherweise. Wir kommen eher aus der Hacker-Kultur und für uns spielt Open-Source-Denken immer eine große Rolle. Insofern ist das sicher eine kulturelle Frage. Aber ich sehe auch, dass andere Journalisten allmählich anfangen, umzudenken. Wahrscheinlich würden das sogar noch mehr von ihnen machen, wären da nicht die Justiziare, die davor warnen. Aber das ist unsere Luxussituation: Wir können uns kein eigenes Justiziariat leisten, was uns davor abhalten könnte, Dokumente zu veröffentlichen (lacht).
Das Thema Netzpolitik rückt weiter in die gesellschaftliche Mitte. Freut Sie das oder fühlt man sich in seiner ‚Nische‘ bedroht?
Weder noch. Es war schon immer klar, dass Digitalisierung ein immer relevanteres Thema werden würde – sie verschwindet ja nicht einfach. Wir können nicht alles abdecken und freuen uns darüber, dass in vielen anderen Medien mittlerweile auch fitte Leute sitzen. Denn eine gesellschaftliche Debatte war und ist immer notwendig und wir führen sie zu wenig informiert.
Was auch dazu führt, dass derzeit noch viele von diesen Debatten ausgeschlossen sind. Welche Rolle kann da „netzpolizik.org“ spielen?
Wir haben hier mehrere Rollen. Zum einen die journalistische, die mittlerweile unsere Hauptrolle ist, in der wir selbst recherchieren, Debatten begleiten, teilweise anstoßen und als Frühwarnsystem fungieren. Aber wir werden auch als Erklärbären von anderen Medien oder Institutionen angesehen, die uns aufgrund unserer Expertise anfragen, um Sachverhalte einzuordnen, zu kommentieren oder bestimmte Sichtweisen zu vertreten.
Wenn solche Themen in die Mitte der Gesellschaft gelangen, ist allerdings auch die Frage, ob nicht lauter Leute mitdiskutieren, die wirklich keine Ahnung davon haben. Bremst das nicht den Prozess?
Ja klar, aber so ist das nun einmal in einer Demokratie. Ich habe auch eine starke Meinung zum Thema Umwelt, ohne bis ins Detail Ahnung von Umweltpolitik, Umwelttechnik und Klimawandel zu haben. Genauso gilt das für die Digitalisierung. Deswegen ist unser Ziel eine informiertere öffentliche Debatte mit mündigen Bürgerinnen und Bürgern.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.